Die Extreme Rechte in Thüringen: Entwicklung der Neonazi-Szene

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Quelle indymedia

Die Extreme Rechte in Thüringen: Entwicklung der Neonazi-Szene

Der heutigen relativen Stabilität der Neonaziszene in Thüringen geht eine von Selbstfindung, Ausdifferenzierung, Spaltungen und kurzlebigen Gruppen geprägte Entwicklung voran. Einige der Kader, welche die Ausrichtung der extrem rechten Szene prägten und die Zusammenschlüsse der zahlreichen, meist jugendlichen Anhängerschaft koordinierten, ziehen noch heute die Fäden. Im Folgenden soll ein unvollständiger, historischer Abriss neonazistischer Erscheinungsformen und Strukturen in Thüringen geliefert werden. In diesem Rahmen wird beispielhaft die Karriere des Landesgeschäftsführers der NPD, Patrick Wieschke, nachgezeichnet.

 

Mit Stumpf und Stiel ausgerottet? Faschistische Bewegungen in der DDR

Offen nationalsozialistische Parteien konnte es in der DDR nicht geben. Mit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) wurde dennoch ein Auffangbecken für Altnazis gegründet, um ehemalige NSDAPMitglieder, niedrige Funktionäre sowie Offiziere und Angehörige der Wehrmacht in das Blockparteiensystem zu integrieren. In ihrer Hochzeit um 1953 zählte die NDPD ca. 230.000 Mitglieder. Nach der Vereinigung versuchten NPD und Republikaner erfolglos mit der NDPD zusammenzuarbeiten. 1990 trat die Partei dem „Bund Freier Demokraten“ bei, der sich schließlich der FDP anschloss.

Jugendliche Neonazis traten in der DDR ab dem Ende der 1970er Jahre zunächst als Skinheads in Erscheinung, die sich am Kleidungsstil und Auftreten extrem rechter Westskins orientierten. In den 1980er Jahren begannen die braunen DDR-Skinheads zunehmend, sich in informellen und untereinander verbundenen Gruppen zu organisieren.

Im Zuge der pronazistischen Politisierung überwiegender Teile der Skinhead-Szene auch in den thüringischen Bezirken entwickelten sich in Arnstadt, Erfurt, Gera, Ilmenau, Jena, Saalfeld-Rudolstadt und Weimar größere Neonazigruppen, die zunehmend das Alltagsleben der Jugend dominierten. Ende 1987 zählte die Staatssicherheit in der gesamten DDR „ca. 800 Personen (ca. 38 Gruppierungen) im Alter von 16 – 25 Jahren, die durch ihr äußeres Erscheinungsbild und ihre Verhaltensweisen den Skinheads zuzuordnen sind“. In den drei Thüringer Bezirken ging die Stasi Anfang Oktober 1988 von insgesamt 103 Skinheads aus.  Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen.

Feindbild der Nazi-Skins waren von Anfang an vor allem Immigrierte und linke Oppositionelle. Im Oktober 1987 überfielen – unter den Augen der nicht eingreifenden Volkspolizei – mehr als 30 rechte Skins ein inoffizielles Konzert der Westberliner Punkband „Element of Crime“ in der Ostberliner Zionskirche, bei dem einige Besucher und Besucherinnen zum Teil schwer verletzt wurden. Nach dem Überfall wurde erstmals auch öffentlich über Neonazis in der DDR berichtet. Bis zu ihrem Ende leugnete die DDR das Naziproblem offiziell aber weiterhin. In einer Broschüre der Auslandspresseagentur der DDR zu Neonazis in der BRD aus dem März 1990 heißt es: „Im Unterschied zur BRD wurde im sozialistischen deutschen Staat der Faschismus mit allen seinen Wurzeln, mit Stumpf und Stiel ausgerottet.“  Erst nach dem Mauerfall wurden die mörderischen Folgen dieser Ignoranz im ganzen Lande sichtbar.

 Thüringens extreme Rechte nach 1990

1990 gab es auf dem DDR-Gebiet mindestens 1.500 Neonazis und mehrere Zehntausend Sympathisanten und Sympathisantinnen. Ein Teil kam aus West-Berlin in die DDR. Zu ihrem strafbaren Repertoire gehörten vor allem schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung und die Verherrlichung von nationalsozialistischen Symbolen.

Am 25.06.1990 fand die rechte Gewalt in Erfurt im Totschlag eines 58-Jährigen durch zwei Skingirls einen vorläufigen Höhepunkt – es sollte nicht der letzte Mord bleiben.

Mit dem überschäumenden Nationalismus und der Explosion der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern nach dem Mauerfall erlebte der Rechtsextremismus einen neuen Aufschwung. Im ganzen Land sollten Gewaltexzesse und Pogrome gegen Asylbewerberheimeim Laufe der 90er Jahre eskalieren. In Thüringen zählte das Bundeskriminalamt 1991 sechs fremdenfeindlich motivierte Brandanschläge und 13 Angriffe auf Migrant(innen) oder Asylbewerber(innen) – selbst das Landesamt für Verfassungsschutz geht dabei von deutlich höheren Zahlen aus.

Bereits bis 1992 traten in Thüringen eine Vielzahl neonazistischer Organisationen in Erscheinung: „Aktion freies Deutschland“ (AfD), „Deutsche Alternative“ (DA), „Nationale Offensive“ (NO), „Nationalistische Front“ (NF), „Deutsch Nationale Partei“ (DNP), „Deutsche Volksunion“ (DVU), „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP), „Republikaner“ (REP), „Wiking-Jugend“ (WJ), „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) sowie verschiedene Skinhead-Cliquen und -Bands. Propagandamaterial kam unter anderem von der in den USA ansässigen „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei / Auslandsund Aufbauorganisation“ (NSDAP / AO). Nach Angaben des Verfassungsschutzes stieg die Zahl neonazistischer Personen in Thüringen in den 90er Jahren kontinuierlich an. 1995 wurden 930 Personen registriert, im Jahr 2000 ging die Behörde von einem Potenzial von 1.680 Personen aus, 2009 von 1.130.

Einen organisatorischen Schwerpunkt in Thüringen stellte nach dem Mauerfall Weimar dar, wo Mitglieder der NO zeitweise am städtischen Runden Tisch teilnahmen. Am Dichterweg hatten rechte Jugendliche ein Haus besetzt, von dem nicht nur Angriffe gegen Migranten und Migrantinnen sowie gegen linke Jugendliche der besetzten Häuser in der Gerberstraße ausgingen: Im Haus am Dichterweg rekrutierte auch die DA Jugendliche und führte regelmäßig Propagandaveranstaltungen mit erfahrenen Neonazis aus Westdeutschland durch. Der 30-jährige Thomas Dienel, ehemaliger FDJ-Sekretär, seit 1979 SED-Mitglied und bis zu seinem Austritt 1992 Vorsitzender der NPD in Thüringen, gründete in der Klassikerstadt die DNP. Gemeinsam mit dem Saalfelder Neonazi Andreas Rachhausen organisierte Dienel den Rudolf-Heß-Gedenkmarsch, zu dem am 15. 08. 1992 knapp 2.000 Neonazis aus der gesamten Bundesrepublik nach Rudolstadt anreisten.

Dem Journalisten Rainer Fromm gegenüber brachte Dienel im August 1992 die damaligen Ziele deutlich zum Ausdruck: „Wir wollen (…) den Nationalsozialismus hoffähig machen.“ (…) „Wir müssen Ausländer und Asylanten mit brachialer Gewalt bei Seite schaffen.“ Aufgrund ausländerfeindlicher und antisemitischer Äußerungen saß Dienel seit Ende 1992 in Haft. 1994 war er erneut u. a. wegen eines Überfalls auf ein Asylbewerberheim in Weimar zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurden. Dass Dienel ab 1995 als Informant für den Thüringer Verfassungsschutz arbeitete und für seine Tätigkeiten insgesamt 25.000 DM erhielt, gelangte erst fünf Jahre später an die Öffentlichkeit. Die Geschäfte des Geheimdienstes mit dem vorbestraften Neonazi kosteten den damaligen Präsidenten des Landesverfassungsschutzamtes, Helmut Roewer, schließlich den Posten.

Der Gedenkmarsch zu Ehren des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Rudolstadt war nicht die einzige Großveranstaltung der extremen Rechten in Thüringen der Nachwendejahre. Am Tag der Deutschen Einheit 1992 veranstaltete die NPD in Arnstadt ein „Deutschlandtreffen“, an dem ca. 1.000 Rechtsextreme aus allen Bundesländern teilnahmen. Unmittelbar nach der Vereinigung übernahmen westdeutsche NPD-Kreisverbände Patenschaften für Kreisverbände in Thüringen, um finanzielle, logistische, ideologische sowie personelle Aufbauhilfe zu leisten. Nachdem Dienel 1992 die NPD verlassen hatte, übernahm Frank Golkowski die Geschäfte als Vorsitzender im NPD-Landesverband. Schwerpunkte der Partei waren damals nach eigenen Angaben Gotha, Gera, Mühlhausen-Eisenach, Arnstadt, Apolda und der Südosten Thüringens.

Trotz der großen organisatorischen Vielfalt der neonazistischen Szene jener Zeit stellt Journalist Fromm bei der Analyse des NPD-Landesparteitages am 21. 06. 1992 in Günthersleben bei Gotha fast prophetisch fest: Die Partei steht „bei der extremen Rechten in Thüringen hoch im Kurs“. Zwar stagnierte die Mitgliederentwicklung der Partei in Thüringen in den 1990er Jahren zunächst zwischen 40 – 60, zum Ende hin stieg die Zahl jedoch deutlich auf ca. 260 (1999). Gleichzeitig verlieren andere Parteien wie die DVU und die Republikaner in Thüringen an Bedeutung. Den bisherigen Höchststand erreichte die NPD 2007 mit etwa 550 Mitgliedern, seitdem ist die Zahl rückläufig (2009: 450). Anderen Organisationen, wie der FAP oder der DA, fehlte es in Thüringen nach dem Mauerfall an Führungspersönlichkeiten, denen es gelingen konnte, extrem rechte Jugendliche zu binden und fest in die Strukturen zu integrieren. So auch der NF, die nach Angaben ihres Generalsekretärs Meinolf Schönborn 1992 in fast allen thüringischen Großstädten Ortsgruppen unterhielt – eine davon auch in Eisenach. Die Westthüringer Region um Gotha und den Wartburgkreis war bereits damals ein Brennpunkt der Konsolidierungsbemühungen neonazistischer Akteure.

Auf die Befriedigung jugendlicher Bedürfnisse nach Erlebnissen waren vor allem die Programme der WJ angelegt, welche seit 1991 auch in Thüringen aktiv war. Unter ihrem sogenannten „Gau-Beauftragten“, dem Eisenberger Michael Sandmann, beteiligte sich die WJ an Aufmärschen der Szene und führte Ferienlager durch. Bei Razzien dieser Camps fand die Polizei wiederholt Waffen, Munition und Propagandamaterial. Nach dem Verbot der WJ 1994 durch den Bundesinnenminister wurden auch Häuser in Weimar, Saalfeld, Nordhausen, Jena, Ichtershausen, Gera und Gotha durchsucht.

Die Skinhead-Subkultur wuchs in Thüringen weiter an. Größere Gruppen gab es in Arnstadt, Erfurt, Gera, Saalfeld-Rudolstadt und Weimar. Skin-Bands aus dem Westen waren zum Anfang der 1990er Jahre von den Auftrittsmöglichkeiten in Ostdeutschland begeistert, dementsprechend viele neonazistische Konzerte mit bis zu 700 Gästen fanden auch in Thüringen statt. Mit den Jahren bildete sich eine lebendige, hier ansässige Rechtsrockszene heraus: Im Mai 2010 berichtete das Innenministerium von 20 aktiven neonazistischen Musikgruppen bzw. Liedermachern aus Thüringen, zwei weitere werden als „Verdachtsfälle“ geführt.(16)

Ab 1994: Schlapphüte und Heimatschützer

Eines dieser Skinheadkonzerte, zu dem am 14. Mai 1994 350 Neonazis aus der gesamten Bundesrepublik nach Rudolstadt kamen, wurde von dem damals 19-jährigen Tino Brandt organisiert. Brandt sollte die Entwicklung der thüringischen Neonazi-Szene in den kommenden Jahren entscheidend prägen. Mit ihm trat die „Anti-Antifa-Ostthüringen“ 1994 an die Öffentlichkeit, aus der zwei Jahre später der „Thüringer Heimatschutz“ (THS) entstehen sollte. Zu dessen führenden Köpfen gehörten neben Brandt auch die heute noch aktiven Jenaer Neonazis Ralf Wohlleben und Andrè Kapke. Ab 1995 traf sich die „Anti-Antifa-Ostthüringen“ wöchentlich. Aus anfänglich 20 Neonazis wurden bis zu 80, die an den Treffen teilnahmen. In ihrer aktiven Zeit trat die „Anti-Antifa“ vor allem durch Gewalttaten gegen Migranten und Migrantinnen sowie Linke in Erscheinung. Mehrfach wurden bei Mitgliedern Schreckschusspistolen, Tränengasdosen, Messer und andere Waffen beschlagnahmt.

Der THS stellte das Bindeglied zwischen der freien Kameradschaftsszene, der NPD und ihrer Jugendorganisation, den „Jungen Nationaldemokraten“ (JN), dar. Durch die Bildung informeller Kameradschafts-Strukturen wollte man sich, anschließend an das Konzept der „Freien Nationalisten“ der Hamburger Neonazis Christian Worch und Thomas „Steiner“ Wulff, staatlichen Repressions- und Verbotsbemühungen entziehen.

Dabei war die neonazistische Kameradschafts-und Parteiszene in Thüringen schon immer eng miteinander verwoben, wie sich bei den Landtagswahlen 1999 deutlich zeigte: Sieben von zwölf Kadern im Landesvorstand der NPD gehörten dem Kameradschaftsbündnis an. Der THS, der sich hauptsächlich aus den Regionen Saalfeld-Rudolstadt, Gera, Jena, Sonneberg, Weimar, Ilmenau, Gotha, Kahla und Nordbayern rekrutierte, hatte darüber hinaus beste Kontakte in die bundesweite Neonazi-Szene. Außerdem war der THS, in Zusammenarbeit mit Frank Schwerdt – heute Landesvorsitzender, stellvertretender Bundesvorsitzender und für die NPD Mitglied im Erfurt Stadtrat – verantwortlich für die im „Deutsche-Stimme“-Verlag erschienene Propagandaschrift Neue Thüringer Zeitung – Stimme der nationalen Erneuerung. Enge Kontakte pflegte der THS auch zur Burschenschaft „Normannia Jena“ und der „Jungen Landsmannschaft Ostpreußen“ (JLO).

Ein versuchter Sprengstoffanschlag im September 1997 sorgte für Aufmerksamkeit, als Neonazis im Jenaer Theaterhaus einen mit einem Hakenkreuz versehenen Sprengstoffkoffer ablegten. Dringend tatverdächtig waren die THS-Mitglieder Uwe Böhnhard, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, denen trotz polizeilicher Beobachtung die Flucht gelang. Bei darauf folgenden Hausdurchsuchungen in Jena im Januar 1998 wurden u. a. vier funktionstüchtige Rohrbomben sichergestellt. Neben Demonstrationen mit bis zu 500 Teilnehmenden zeigte ein Nazikonzert in Schorba (Saale-Holzlandkreis) am 13. November 1999 mit ca. 1.000 Gästen die Mobilisierungsfähigkeit der Szene zum Ende des Jahrtausends.

Dem THS gehörten 2001 nach Angaben des Verfassungsschutzes 170 Personen an. Zur Auflösung kam es, nachdem im Mai 2001 Tino Brandt als V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz enttarnt wurde. Nach eigenen Angaben hatte Brandt seit 1994 unter dem Decknamen „Otto“ für den Verfassungsschutz gearbeitet und insgesamt 200.000 DM für seine Tätigkeiten erhalten, die er vor allem zur Finanzierung neonazistischer Aktivitäten nutzte. Nach der öffentlichen Enttarnung zog sich Brandt von seinen Posten zurück. Ab 2002 tritt der THS nicht mehr als eigenständige Struktur in Erscheinung. Das regelmäßige Nutzen eines Transparents mit der Aufschrift „Thüringer Heimatschutz – Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte“ durch Neonazis aus Jena und Saalfeld, zuletzt bei einem Nazigroßmarsch am 19. 02. 2011 in Dresden, zeigt die personellen, logistischen und inhaltlichen Kontinuitäten der extrem rechten Szene Thüringens über fast 15 Jahre.

Westthüringen: Die beispielhafte Karriere Patrick Wieschkes

Dem THS eingegliedert war das „Nationale und Soziale Aktionsbündnis Westthüringen“ (NSAW). Gegründet hatte dieses der heutige NPD-Landesgeschäftsführer Patrick Wieschke.

Bereits in jungen Jahren fand der 1981 geborene Wieschke Zugang zu den extrem rechten Cliquen Eisenachs. 1999 meldete er erstmals eine Wahlkampfveranstaltung der NPD in Eisenach an. Bis 2002 war er Landesvorsitzender und Pressesprecher der NPD-Jugendorganisation JN und trat gleichzeitig als Pressesprecher des NSAW und der „Kameradschaft Eisenach“ auf.

Das NSAW wurde offiziell im Juni 2000 als Zusammenschluss der Kameradschaften Eisenach, Unstrut-Hainich und Bad Liebenstein, des „Nationalen Widerstands Schmalkalden“ und des „Anti-Antifaschistischen Komitees Eisenach“ gegründet. Später schlossen sich auch Gruppen aus Bad Salzungen und Nordhausen, der „Skinheadclub 88“ aus Friedrichroda unter Führung von Michael Burkert, der „Nationale Widerstand Gotha“ sowie kleinere Cliquen dem Bündnis an. Das NSAW definierte sich als organisationsübergreifende „gemeinsame Plattform für alle ‚nationalpolitischen‘ Kräfte in Westthüringen“. Die wichtigsten Aufgaben bestanden in der gemeinsamen Organisation einschlägiger Versammlungen sowie Vernetzung und im Informationsaustausch untereinander.

Länderübergreifend war das NSAW im „Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Mitteldeutschland“ (NSAM) assoziiert. Seit 2007 taucht das NSAW nicht mehr im Jahresbericht des Thüringer Verfassungsschutzes auf. Im August 2000 wurde Wieschke unmittelbar nach einem Sprengstoffanschlag auf einen türkischen Imbiss in Eisenach festgenommen. Kurz vor seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe u.a. wegen Anstiftung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion im April 2002 trat Wieschke vorübergehend aus der NPD aus und von allen Partei-Ämtern zurück. Während seiner Haftzeit trat das NSAW kaum in Erscheinung.

Unmittelbar nach seiner vorzeitigen Entlassung im Mai 2004 nahm er seine Aktivitäten wieder auf und zog nach Gotha. Noch im selben Jahr gründete er dort gemeinsam mit anderen Neonazis den Verein „Toringi e. V.“. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Mitglieder der Neonazi-Band „SKD“, die im Keller eines über den Verein angemieteten Hauses einen Proberaum unterhielt. Das sogenannte „Grüne Haus“ in der Frimaerstraße entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten Neonazi-Treffpunkt in Westthüringen, in dem regelmäßig Konzerte mit bis zu 100 Gästen stattfanden. Auch sollen hier Steckbriefe von Antifaschisten ausgetauscht worden sein. Im März 2006 schlossen die Behörden die Räumlichkeiten endgültig.

Wieschke forcierte nun sein kommunales und landespolitisches Engagement für die NPD. Seit 2006 ist er hauptberuflich Landesgeschäftsführer der Partei und maßgeblich für die Professionalisierung und den Landtagswahlkampf 2009 in Thüringen verantwortlich. Trotz seiner gewalttätigen Vergangenheit konnte der Neonazi 2009 erhebliche Erfolge für die NPD erzielen: Hätte die Partei landesweit soviel Stimmenanteile wie er bei den Erststimmen (5,2 %) erreicht, wäre der Einzug der NPD in das Landesparlament geglückt.

Zuvor sind Wieschke und der Neonazi Jonny Albrecht bereits mit 5,0 % der abgegebenen Stimmen in den Rat der kreisfreien Stadt Eisenach eingezogen. Zwischen Dezember 2009 und Januar 2011 war Wieschke einer von zwei Geschäftsführern des „Deutsche Stimme“-Verlags, dem Parteiverlag der NPD. Hier lässt er seit 2006 den Wartburgkreis Boten, eine sich bürgernah gebende NPD-Wahlzeitung mit regionalen Themen auf der Titelseite, drucken. Thüringenweit initiierte Wieschke mittlerweile im Rahmen einer „NPD-Medienoffensive“ acht solche Blätter.

Ab 2002: Häuser, Rechtsrock, Spaltung

Seit den letzten Atemzügen des THS 2002 orientierte sich die neonazistische Szene im Freistaat um. Nazis unterwanderten demokratische Proteste gegen die Agenda 2010 und führten eigene Demonstrationen mit sozialdemagogischen Slogans durch. Erstmals wurden in Thüringen bewusst linke Symboliken, sozialrevolutionäre Bildsprache und Anglizismen wie fight the system in der  neonazistischen Propaganda verwendet.

Im Mittelpunkt der nach wie vor aktuellen Strategie steht außerdem das Aneignen von Immobilien als Schulungs- und Veranstaltungszentren und das regelmäßige Realisieren stationärer Kundgebungen, auf denen (partei) politische Agitation und die Zurschaustellung neonazistischer Musikkultur  miteinander verbunden werden. Dazu zählt der „Thüringentag der nationalen Jugend“, welcher erstmalig 2002 mit ca. 350 Besuchern in Jena ausgerichtet wurde und seit dem jährlich in wechselnden thüringischen Städten v. a. durch den Jenaer Neonazi Ralf Wohlleben veranstaltet wird. In Gera findet seit 2003 jährlich das „Rock gegen Krieg“ bzw. „Rock für Deutschland“ statt. Seinen bisherigen Höhepunkt erreichte die Veranstaltung 2009, als über 5.000 Neonazis zum Auftritt der „Lunikoff Verschwörung“ strömten. 2005 folgte das erste „Fest der Völker“, welches die Neonazis um Wohlleben, Kapkè und den Altenburger Thomas Gerlach ursprünglich jährlich bis 2015 in Jena anmeldeten. Obwohl das „Fest“ – 2005 und 2007 in Jena, 2008 in Altenburg und 2009 in Pößneck – bis zu 1.700 Neonazis aus ganz Europa anzog, konnte es bisher keinen festen Eingang in den Kalender der sich jährlich wiederholenden Aufmärsche finden.

Umso etablierter ist dagegen das „Braune Haus“ in Jena. Die ehemalige Gaststätte in Altlobeda pachtete im Jahr 2002 der neonazistische Liedermacher Maximilian Lemke. Im August 2008 räumte die Polizei das Haus aufgrund baulicher Mängel. Seitdem nutzen die Nazis ein großes Zelt im Hof für ihre Treffen.

Fest in der Hand der extremen Rechten ist auch das „Gutshaus Hanstein“ in Fretterode (Landkreis Eichsfeld), welches NPD-Bundesvorstandsmitglied Thorsten Heise 2002 erwarb und u. a. als Treffpunkt für Kameradschaftsabende nutzt. Mit dem alten Schützenhaus in Pößneck verfügt die Naziszene seit 2003 über großzügige Räumlichkeiten.

Im Anschluss an einen NPD-Landesparteitag im Jahr 2005 gab Michael Regener, Sänger der neonazi-Band Landser, vor etwa 1.500 Teilnehmenden sein Abschiedskonzert. Zahlreiche Versammlungen, Konzerte, Schulungen und Feierlichkeiten verschiedener Neonazi-Aktivisten finden seit Februar 2009 in der „Erlebnisscheune Kutz“ in Kirchheim (Ilm-Kreis) statt. Unter anderem konferierte dort im Dezember 2010 die extrem rechte DVU bei ihrem Bundesparteitag und beschloss die Fusion mit der NPD.

Mit dem Bürohaus „Europa“ verfügt die Thüringer NPD seit Juli 2010 in Bad Langensalza (Unstrut-Hainich-Kreis) über eine Parteizentrale, die u. a. auch vom „Deutsche-Stimme“-Verlag und dem „Germania Versand“ des NPDLandesvorstandsmitglieds Patrick Weber sowie für neonazistische Konzerte genutzt wird.

Darüber hinaus gibt es in Thüringen eine Vielzahl weiterer öffentlicher und privater Räume mit regionaler Bedeutung für Veranstaltungen, Treffen und Logistik.

Quo vadis, Nazis?

Für die Thüringer Nazi-Szene stellte der Nicht-Einzug in das Landesparlament 2009 eine Zerreißprobe dar. Teile der rechten Szene im Freistaat, die zuvor bundesweit eine Vorreiterrolle in der Zusammenarbeit von „Freien Nationalisten“ und der NPD spielten, distanzierten sich seither von der Partei und konzentrierten ihre Aktivitäten in den Kameradschaften des sogenannten „Freien Netz“ mit regionalen Gruppen in Jena, Kahla, Saalfeld und Altenburg. Langjährige Aktivisten wie die Jenaer Ralf Wohlleben und Andrè Kapke traten von ihren Parteiämtern zurück und grenzen sich von dem als „Karrieristen“ verschrienen NPDLandesgeschäftsführer Wieschke ab. Den „wilden“, archaischen und gewalttätigen Jahren nach der deutschen Vereinigung folgte eine Phase der politischen Professionalisierung. Die Landtagswahl im „Superwahljahr“ 2009 markiert den vorläufigen Höhepunkt, bei der die NPD den Einzug in das Erfurter Landesparlament um 0,7 % verpasste.

Seitdem steht sich die Szene gespalten gegenüber: Wo konkrete kommunalpolitische Erfolge zu verbuchen waren, bemühen sich die Neonazis um ein seriöses Auftreten. Dort, wo dies nicht gelang, pflegt man ein für Jugendliche attraktives Image und flüchtet sich in subversiven Aktionismus. Den Neonazis aus dem Umfeld des „Freien Netz“ aus Jena und Kahla werden nicht nur zahlreiche extrem rechte Graffiti-Schmiereien zugeordnet: Sie sollen ebenfalls für einen versuchten Brandanschlag auf einen als links eingeschätzten Saalfelder Busunternehmer im Sommer 2010 verantwortlich sein.

Wenngleich die Ausdifferenzierung ihrer Strukturen zugunsten des NPD-Monopols in den vergangenen 20 Jahren abgenommen hat – die Entwicklung der extremen Rechten in Thüringen zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus nicht von parlamentarischen Erfolgen der Nazis abhängig gemacht werden kann. Der vielschichtigen Bedrohung von rechts müssen Politik und Zivilgesellschaft zeitgemäß, flexibel und unter Beachtung lokaler Besonderheiten begegnen.

 

Quellen

  1. Vgl. N.N. (2007): Die Partei der Ehemaligen. Ein Blick auf die Geschichte der Blockpartei NDPD. In: AIB 2 / 2007, S. 14ff.
  2. Borchert, Ralf (2004): „… bisschen was Derberes“. Rechtsextremismus und Zivilgesellschaft – das Beispiel Weimar. Jena, S. 57.
  3. Ebd.
  4. Siegler, Bernd (1991): Auferstanden aus Ruinen … Rechtsextremismus in der DDR. Berlin, S. 99.
  5. Vgl. Borchert, 2004, S. 64.
  6. Vgl. Fromm, Rainer (1992): Rechtsextremismus in Thüringen. Erfurt, S. 8.
  7. Ebd.
  8. Vgl. Jahresberichte des TLfV. Mehrfachmitgliedschaften bleiben unberücksichtigt, weshalb der VS das tatsächliche personelle Potenzial 10-20 % niedriger veranschlagt.
  9. Fromm, 1992, S. 21.
  10. Vgl. Borchert, 2004, S. 30.
  11. Fromm, 1992, S. 62.
  12. Vgl. Jahresberichte des TLfV.
  13. Vgl. Fromm, 1992, S. 72.
  14. Vgl. Borchert, 2004, S. 30.
  15. Vgl. Fromm, 1992, S. 100.
  16. Vgl. Antwort des Thüringer Innenministeriums auf Kleine Anfrage der Abgeordneten Renner (DIE LINKE) (2010): Neonazistische Musikkultur in Thüringen vom 12.05.2010, Thüringer Landtag, Drucksache 5 / 954.
  17. Borchert, 2004, S. 27.
  18. Ebd., S. 44.
  19. Vgl. Jahresbericht des TLfV 1999.
  20. Selbstdarstellung auf der ehemaligen Homepage.
  21. Vgl. Maegerle, Anton (2011): Wechsel im Deutsche Stimme-Verlag. Online unter: http://www.bnr.de/content/wechsel-im-deutsche-stimme-verlag, (eingesehen am 01.02.2011).
  22. Vgl. Broschüregruppe (2009): Rechtsextreme Strukturen in Jena. Jena.
  23. Vgl. DIE LINKE Thüringen (2011): Rechte Immobilien. Online unter: http://www.die-linke-thueringen.de/politik.asp?iid=750, (eingesehen am 01.02.2011).
  24. Vgl. Zippel, Tino (2011): Tatverdächtige nach Farbanschlag in Jena ermittelt. In: OTZ, 26.01.2011, Online unter: http://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Tatverdaechtige-nach-Far…, (eingesehen am 01.02.2011).

 

Matthias Quent

Matthias Quent ist Mitarbeiter bei der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag. Seit 2004 setzt er sich ehrenamtlich und beratend als Referent mit der neonazistischen Szene in Thüringen auseinander. Derzeit schreibt der angehende Soziologe an der FSU Jena seine Magisterarbeit über rechtsextreme Einstellungen in unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten in Hessen und Thüringen.