Thüringen gesundschrumpfen! Nur wie?

Die Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltete gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung am 7. April eine Podiumsdiskussion zum Thema „Gebietsreform in Thüringen. Zankapfel oder Zukunftsprojekt?“. Im Erfurter Café Nerly diskutierten Anja Siegesmund (Bündnis90/Die Grünen), Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Heiko Gentzel (SPD), Vizepräsident des Landtags, und Ralf Rusch, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Thüringer Gemeinde- und Städtebunds.

„Das ist ein sperriges Thema. Aber es ist gar nicht so trocken, wie es erstmal klingt“, lockerte Anja Siegesmund zunächst einmal auf. Sie werde auch keine fertige Karte von Thüringen präsentieren können. Aber dennoch gebe es dringenden Handlungsbedarf. Das erkenne man allein schon an der demographischen Entwicklung in Thüringen: Seit 1990 habe Thüringen zwölf Prozent seiner Einwohner verloren. Sie verglich die Situation mit einem Haus, in dem viele Menschen wohnen. Nach und nach zögen aus dem Haus immer mehr Bewohner aus – es bleiben nur noch deren Möbel zurück: „Wir sind in Thüringen übermöbliert. Wir leben in Strukturen, die an einer viel größeren Bevölkerungszahl ausgerichtet sind.“ Nun sei die Aufgabe, Thüringen gesundzuschrumpfen – die Frage sei nur wie.

Drei Schritte seien aus ihrer Sicht nötig: Man müsse das Problem endlich ernst nehmen und den Handlungsbedarf erkennen. Dafür habe es von 2005 bis 2009 bereits eine Enquete-Kommission zu dem Thema in Thüringen gegeben. Diese haben einen über 200-seitigen Bericht zu dem Thema erstellt und damit zumindest die bisherige und die zukünftige demographische Entwicklung beschrieben. Wie die Verwaltung oder die Infrastruktur allerdings konkret umgebaut werden müssten, kläre der Bericht allerdings nicht. In einem zweiten Schritt müsse man nun über die nötige Funktionsverteilung zwischen Kommunen, Kreisen und dem Land sprechen. Erst nach dieser Funktionsdebatte sollte man über eine Gebietsreform nachdenken. Erschwerend zu dieser demographischen Entwicklung komme jedoch hinzu, dass bis zum Jahr 2020 die Mittel aus dem Solidarpakt II ebenso enden werden, wie die Mittel aus dem EU-Strukturfonds. Thüringen fehlten dann bis zu zwei Milliarden Euro im Haushalt. Deshalb forderte Siegesmund als dritten Schritt, neben der Anerkennung des Problems und der Funktionsreform, die Verankerung einer Schuldenbremse in der Thüringer Verfassung. Nur so könnten die Landesfinanzen langfristig konsolidiert werden.

Auch für Heiko Gentzel (SPD), den Vizepräsidenten des Thüringer Landtags, sind es drei Schritte bis zur Gebietsreform. Diese seien allerdings vielmehr durch einen Entscheid des Thüringer Verfassungsgerichts vorgegeben: Zunächst müsse man den Willen zur Reform haben, dann müsse man ein Leitbild entwerfen und es dann geregelt umsetzen. Die SPD wolle ganz klar eine Gebietsreform, nur die CDU bremse noch. Die SPD hat, laut Gentzel, auch schon ein klares Konzept: Man wolle Landkreise erst ab 200.000 und Kommunen erst ab dauerhaft 5.000 Einwohnern zulassen. Kreisfreie Städte könnten ab 100.000 Einwohnern bestehen bleiben. „Es sei eine Herkulesaufgabe und uns wird nicht nur gedankt werden, aber die Notwendigkeit ist da.“ Er persönlich finde das alles gar nicht so problematisch, da man das ja 1993 auch schon einmal gemacht habe. Man müsse nur die Fehler von damals vermeiden, die hauptsächlich Formfehler gewesen seien.

Das wesentliche Dilemma ist für Ralf Rusch, den Vorsitzenden des Thüringer Gemeinde- und Städtebunds, dass schon viel zu lange über diese Reform diskutiert werde. Dieses Zögern führe bei den Kommunen zu enormer Unsicherheit. Laut Koalitionsvertrag solle ein neues Gutachten zu dem Thema erstellt werden, auf dessen Basis dann gehandelt werden könne. Allerdings seien nach anderthalb Jahren Regierungszeit noch nicht einmal die Gutachter bestellt. So herrsche für die Kommunen weiterhin große Planungsunsicherheit. Das Land sage: „Schließt euch erstmal zusammen und wir schauen dann, ob es zu unserem zu unserem noch zu entwickelnden Leitbild passt!“ Die Gutachter sollten nun schnell eingesetzt werden und feststellen, ob der Bedarf an einer solchen Reform bestehe oder nicht. In der Zwischenzeit sollte nicht jeder mit einem eigenen Vorschlag hervorpreschen, wie es nun beispielsweise die SPD gemacht habe.

Der Unmut der Kommunen über die Dauer der Entscheidung sei verständlich, meinte Gentzel, allerdings müsse in der Politik erst einmal eine innerparteiliche Meinungsbildung stattfinden. Siegesmund entgegnete, dass es erstaunlich sei, dass man jetzt erst noch ein weiteres Gutachten brauche. Für sie drehe sich die Diskussion mittlerweile im Kreis. Vielleicht sollte man sich dafür auch an anderen Ländern orientieren. Thüringen sei das einzige Land, das so kleinteilig organisiert sei. Die Frage sei dabei auch, ob man sich für eine Zwei- oder eine Dreistufigkeit der Landesverwaltung entscheide. Zwei Verwaltungsstufen bedeuteten, dass es nur die Landesebene und die Kommunalebene gebe, die mittlere Ebene des Landesverwaltungsamtes fiele weg. Bisher habe man sich nur in Niedersachsen zu einer solchen Reduktion von drei auf zwei Stufen entschieden. Man müsse auch erkennen, dass diese Reform Geld kosten werde. Aber es gebe Studien, dass sich diese Kosten nach sechs bis sieben Jahren amortisieren würden. Für Siegesmund sollten zudem auch die Bürger an dieser Debatte über die Gebietsreform beteiligt werden.

Das hält Gentzel für sehr kompliziert: „In 17 Landkreisen heißt das auch 17mal Bürgerwille“. Er befürworte zwar grundsätzlich eine Bürgerbeteiligung, aber nur in bestimmten Grenzen. Da werde dann mit hoher Emotionalität darüber entschieden, ob man mit der verfeindeten Nachbargemeinde zusammengehen wolle oder nicht. Bei der Frage der Identität, die oftmals mit der Gebietsreform verbunden werde, sollte man in Thüringen sowieso vorsichtig sein. In Thüringen würden Identitäten häufig auch so beschrieben, wie man sie gerade will. Bei der Gebietsreform werde oft nur noch über Identitäten gestritten, so dass beispielsweise die Frage des demographischen Wandels dabei völlig in den Hintergrund trete. Wichtig sei doch die Frage, was könne man den Bürgern zumuten. Wenn ein Bürger laut Statistik nur ein- bis zweimal im Jahr ins Amt müsse, dann stelle sich die Frage, ob man ihm dann nicht auch zumuten könnte, 50 Kilometer ins nächste Amt zu fahren.

Die wichtigste Grundannahme bei der Überprüfung der zukünftigen Funktionsverteilung sei für Gentzel, dass man jede Aufgabe kommunalisieren könne. Diese Herangehensweise erscheint Ralf Rusch viel zu pauschal. Man wisse bereits heute, dass es bei vielen Aufgaben nicht lohne, sie zu kommunalisieren, da dafür Spezialwissen und Experten nötig seien, die die einzelnen Kommunen nicht dezentral bereitstellen können. Außerdem müssten die Kommunen, wenn sie mehr Aufgaben übernehmen sollten, auch finanziell besser ausgestattet werden.

Insgesamt waren sich die drei Vertreter auf dem Podium relativ schnell einig, dass Handlungsbedarf bestehe. Es fehlte nur, wie Heiko Gentzel zu Recht anmerkte, ein Vertreter der CDU. Dieser hätte die Gegenposition der CDU erklären können. So konnte nur Gentzel ansatzweise die Argumente seines Koalitionspartners widergeben: Dass die Reform Einsparpotential bringe, sei für die CDU nicht erwiesen. Außerdem würden sich viele ehrenamtlich Engagierte im Wesentlichen an ihrem Kreis orientieren. Deren Arbeit würde bei größeren Kreisen dann wegfallen. Und es komme bei größeren Kreisen auch zu einer Entfremdung zwischen den Bürgern und der Verwaltung.

Man müsse nun, so Gentzel, mehr Druck auf die CDU aufbauen, damit diese ihre bisherige bremsende Haltung aufgebe. Die Gebietsreform sei aber keine Frage für einen Bruch der Koalition, da es ja auch keine realistische Alternative gebe und bisher alle Vereinbarungen eingehalten worden sind. Das weitere Procedere beschrieb er süffisant so: „Wir werden im Landtag eine Riesendebatte dazu haben. Irgendwann werden wir genug davon haben und dann entscheiden wir’s.“