„Warum gab es bisher eigentlich keine Revolution?“ Das sei die Frage, die man sich stellen müsse, wenn man die Möglichkeiten des Web 2.0 betrachtet, findet Linus Neumann vom Blog Netzpolitik.org. Und er gibt selbst auch gleich die Antwort: „Weil die Leute lieber Katzenbilder und Videos von Menschen anschauen, die hinfallen und sich wehtun!“ Neumann hatte jahrelang an die Chancen des Web 2.0 geglaubt. Aber heute sagt er: „Was wir alle erhofft haben als Social Media Maniacs, ist nicht eingetreten.“ Wir alle nutzen das Internet falsch – oder besser: halt nur um solchen Katzencontent und solche Spaßvideos anzuschauen.
Mit mehr wissenschaftlicher Distanz hat Dr. Tobias Bevc von der Universität Augsburg die Entwick-lung des Web 2.0 untersucht. Er spannt einen Bogen der Theorien der Öffentlichkeit und der Theo-rien neuer Medien von Immanuel Kant über Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas. Genauso wie Benjamin, als er die Entstehung des Tonfilms erlebte, sieht auch Bevc in der Entstehung des Web 2.0 zwei Potentiale: Ein befreiendes und ein einengendes. Die Frage sei, wie die Menschen es zu nutzen wissen. Der Vorteil des Web 2.0 sei, dass es heutzutage (zumindest in Deutschland) kaum noch Zugangsbarrieren gebe und sich jeder beteiligen könne. Die unterschiedlichen Medienformate des Netzes sorgten zudem dafür, dass man sich im Netz keinem bürgerlichen Bildungsparadigma, das nur auf dem Lesen basiert, unterwerfen müsse. Durch das Web 2.0 können einfacher Transparenz geschaffen und Zensur und Sperrrungen umgangen werden.
An dieses befreiende Potential glaubt Neumann nur noch bedingt. Nicht nur wegen der oben skizzierten, wenig revolutionären Nutzerorientierung, sondern auch, weil die technischen Grundlagen des Internets oft vergessen würden. Eigentlich habe es bisher nur sehr wenige Stellen gegeben, an denen zensiert wurde. Gerade deshalb hätte die Umgehung der Zensur bisher gut funktioniert. Notwendig für das transparenzfördernde Potential sei es, mangelnde Dezentralität zu verhindern. In Libyen gab es beispielsweise nur eine einzige Untersee-Leitung, durch die das Land mit dem Internet verbunden war, die das herrschende Regime während des Aufstandes komplett abschaltete.
Aber auch das Potential der sozialen Netzwerke werde oftmals überschätzt. Oft werde der Arabische Frühling auch als „Facebook-“ oder „Twitter-Revolution“ bezeichnet. Das könnten die Beteiligten mittlerweile schon nicht mehr hören. Sie sagen, laut Neumann, vielmehr: Wir haben eine echte Revolution gemacht, wir saßen real auf dem Tahrirplatz. Ihr glaubt nur an die Macht der virtuellen Revolution, weil die Twitter- und Facebook-Nachrichten das einzige waren, was ihr in Europa mitbekommen habt.
Im Gegenteil könnten gerade auch die sozialen Netzwerke und die Blogs auch von autoritären Regimen benutzt werden, betont Bevc. Das sehe man beispielsweise an China: Für jeden regimekritischen Blog hat die chinesische Regierung zehn andere Blogs gestartet, in denen steht, wie schön das alles ist. Abgesehen von dieser politischen Dimension stellt Bevc fest, das in den sozialen Netzwerken auch die Gefahr einer konstanten Selbstbespiegelung liege. Im Gegensatz zur Zeitung, in der man auch mit unerwünschten und abseitigen Nachrichten konfrontiert werde, finde in sozialen Netzwerken eine Vorselektion durch Freunde und Empfehlungen statt: „Die Meldung „5.000 Kinder sterben in Darfur“ wurde von niemandem geliked und so bekommen die Nutzer sie gar nicht mehr mit.“ Sie bekommen nur noch mit, was in ihrem eigenen Erfahrungsraum passiert.
Um dies zu verhindern, müsse man die Medienkompetenz der Nutzer stärken. Viele Nutzer wissen beispielsweise nicht, dass auch das Internet den kapitalistischen Verwertungsinteressen unterworfen ist. In einer Umfrage wurde, laut Bevc, herausgefunden, dass die meisten Menschen davon ausgehen, dass die Suchergebnisse bei Google objektiv seien. Das sind sie aber nicht: Sie sind vielmehr durch Cookies auf die eigenen Vorlieben und Themen zugeschnitten. Mit der personalisierten Werbung verdient Google mittlerweile mehr als 6 Milliarden Euro.
Ähnliches gelte natürlich auch für die sozialen Netzwerke, fügt Neumann hinzu und zitiert dafür Andy Müller-Maguhn, den Vorstand des Chaos Computer Clubs: Soziale Netzwerke sind weder „Netzwerke“, da sie lediglich auf der Festplatte einer Firma stattfinden, noch sind sie „sozial“, da mit den Daten und Informationen schlichtweg Geld gemacht wird. Wie viele Informationen die Nutzer preisgeben, ohne diesen Zusammenhang zu sehen, sei sehr bedenklich, ergänzt Johannes Beleites von der Evangelischen Akademie Thüringen. In den 80er Jahren habe man noch gegen die Volkszählung demonstriert, heute geben die Leute all ihre Daten freiwillig an. Von diesen Informationen, die Unternehmen wie Facebook oder Google momentan sammeln, konnte die Stasi in der DDR nur träumen.
Die gegenwärtigen Zentralisierungstendenzen sind auch für Neumann die größte Gefahr für das Web 2.0. Die meisten Probleme mit dem Internet hingen mit der Zentralisierung zusammen: Probleme des Datenschutzes, der Überwachung und der Manipulation. Irgendwo müsse letztendlich ein Server stehen, auf dem die Daten gespeichert werden, auch wenn der Nutzer nicht online ist. Das machen momentan nur große Unternehmen wie Facebook mit ihren riesigen Serverfarmen. Als Ausweg aus diesem Dilemma wird in den USA gerade unter dem Namen „Diaspora“ ein soziales Netzwerk entwickelt, das nicht auf einem zentralen Server läuft, sondern bei dem jeder Nutzer theoretisch seinen eigenen dezentralen Diaspora-Server betreiben kann. Es ist das Gegenmodell zur zentralisierten und auf der Verwertung der Daten basierenden Logik von Facebook.
Genauso gibt es auch Gegenmodelle zum nur an Katzencontent interessierten Internet-Nutzer. Das stellte auch Neumann überrascht fest: Nachdem RTL-Explosiv einen herablassenden und Gamer diffamierenden Bericht über die Spielemesse „games.com“ gesendet hatte, brach ein Sturm der Entrüstung unter den Online-Spielern los. Die RTL-Homepage wurde kurzfristig gehackt, 8000 Beschwerden gingen bei RTL ein. Hier zeigte sich einmal das mögliche Mobilisierungspotential des Web 2.0. Langfristige Konsequenzen hatte das allerdings keine. Neumann kommentierte dies lakonisch: „Nachdem sich RTL entschuldigt hatte, sind die Gamer wieder in den Keller gegangen und haben weiter gespielt.“
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