Immer wieder kommt es seit November 2011 wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen in Ägypten. Zuletzt starben sogar wieder Demonstranten in der Auseinandersetzung mit der Polizei. Für westeuropäische Beobachter ist dies unverständlich, da doch die Revolution im Frühling stattgefunden hat und auch schon freie Wahlen begonnen haben. Was passiert momentan in Ägypten? Ingrid El Masry vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien der Uni Marburg versucht das im Vergleich zu der Revolution in Tunesien zu erklären.
Zuerst will sie jedoch einige Missverständnisse und Fehldarstellungen der deutschen Medien korrigieren: Es sei eine spontane, männlich geprägte Jugendrevolte, die besonders durch Facebook und Twitter vorangetrieben wurde. Wichtig ist ihr, dass die tragende Rolle der Frauen und der Arbeiterbewegung in dieser Darstellung vergessen wird. Es gab lange vor der Revolution bereits „einen historischen Schulterschluss zwischen Jugend- und Arbeiterbewegung.“ Daher war der Aufstand auch nicht spontan und unvorhersehbar. In den Jahren von 2004 bis 2008 hatte sich eine Bewegung formiert, die schon damals 1,4 Millionen Menschen in Streiks und anderen Protestformen zusammengebracht hatte. „Man konnte sehen, dass es gärt und nur einen Funken braucht“, fasst es El Masry zusammen. Die soziale Lage hatte sich in den Jahren vor der Revolution immer weiter zugespitzt. Eine kleine Elite weniger Unternehmerfamilien um den Präsidenten Hosni Mubarak hatte sich bereichert, während es der einfachen Bevölkerung, z.B. aufgrund steigender Lebensmittelpreise, immer schlechter ging. Die Internet-Jugendbewegung um die Facebook-Gruppe des „06. April“ entstand ursprünglich zur Unterstützung eines Arbeiter-Streiks und wurde dann ein wesentliches Medium der Vernetzung des zukünftigen Aufstands. Ohne den Schulterschluss mit den Arbeitern hätte die Jugendbewegung jedoch vermutlich wenig erreicht. Dies verdeutlicht El Masry am Beispiel Marokkos: Dort seien 150.000 Menschen auf die Straße gegangen, ohne dass es zu einer Revolution kam. Die Jugendbewegung blieb isoliert. Der Aufstand in Ägypten hingegen war eine Kombination aus bürgerlichen Protesten der Jugend, die mehr Demokratie und Mitbestimmung verlangten, und sozialer Revolution, bei der es um die soziale Situation ging.
Der Aufstand sprang allerdings, wie vielfach in den deutschen Medien dargestellt, nicht einfach von Tunesien auf Ägypten über. Die Situation in Ägypten selbst war schon angespannt. Die Demonstration, nach der der Tahrir-Platz besetzt wurde, war lange angekündigt und richtete sich gegen den sogenannten „Tag der Polizei“. Die Polizei sei in Ägypten so verhasst, erläutert El Masry, dass Präsident Mubarak versucht hatte, sie mit Hilfe eines besonderen Tages wieder in besseres Licht zu rücken. Doch das misslang: An diesem Tag gab es in Ägypten regelmäßig Demonstrationen und Ausschreitungen. Außerdem war die Situation bereits politisch brisant, da im Jahr 2011 auch Präsidentschaftswahlen stattfinden sollten. Von einem einfachen Übergreifen kann also nicht gesprochen werden.
Über die Revolution selbst wurde viel in den deutschen Medien berichtet. Sie schien aus deutscher Sicht beendet, als Mubarak zurücktrat und der Militärrat übernahm. Doch wie ging es in Ägypten danach weiter? Wie kam es nach diesen Anfängen zu den immer wieder aufflammenden gewalttätigen Ausschreitungen? El Masry zeigt dies am Unterschied zwischen der tunesischen und der ägyptischen Revolution.
In Tunesien setzte sich der Diktator Ben Ali sehr schnell mit den Goldreserven ins Ausland ab. Eine zivile Regierung übernahm die Macht im Land. Es wurden Kommissionen zur Untersuchung der Korruption und zur Erarbeitung politischer Reformen eingesetzt. Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben. Im Oktober fanden Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung statt, bei der sich die gemäßigt islamistischen Parteien durchsetzen konnten. Es gab, laut El Masry, in Tunesien einen „Übergangsprozess mit demokratischem Verlauf“.
In Ägypten war die Lage weitaus komplizierter. Das Land ist größer und von höherer außenpolitischer Bedeutung als Tunesien. Der entscheidende Unterschied zu Tunesien aber war, dass nach der Revolution der oberste Rat der Streitkräfte die Macht übernommen hat und keine zivile Regierung. Das Militär ist in Ägypten eigentlich traditionell hoch angesehen, da es die Ägypter vom Joch der Kolonialherrschaft befreit hatte. „Die Rolle des Militärs wurde zu positiv gesehen“, erklärt El Masry die damalige Bereitschaft der Bevölkerung, dem Militär die Macht zu übertragen. Übersehen wurde von den Ägyptern, dass das Militär in den letzten Jahren stark von der Politik Mubaraks profitiert hatte und eine entsprechende Verknüpfung entstanden war. Das Militär wurde auch massiv von den USA unterstützt, um Ägypten als Speerspitze im Konflikt zwischen Israel und Palästina ruhig zu stellen und abzusichern, dass es den Friedensvertrag mit Israel nicht aufkündigt. Das Interesse des Militärs am eigenen Machterhalt wurde übersehen. Aber die Agenda der Monate nach der Revolution machte dies unmissverständlich deutlich: Das Demonstrationsrecht wurde eingeschränkt, Demonstranten wurden (und werden weiterhin) vor Militärgerichte gestellt; in der neu entwickelten Übergangsverfassung behalten die Streitkräfte die Kontrolle über die Exekutive und die Legislative. Im November verabschiedete das Militär zudem „suprakonstitutionelle Prinzipien“, durch die das Militär und auch der Militärhaushalt der parlamentarischen Kontrolle entzogen wurde. Daraufhin kam es zu Aufständen, da deutlich wurde, dass das Militär die Macht nicht wieder abgeben wollte. Die Lage beruhigte sich durch die kurz darauf abgehaltenen Parlamentswahlen wieder ein wenig.
Dennoch bleibt die wichtigste Frage der Nachrevolutionsphase offen: Wer kontrolliert den Verfassungsgebungsprozess? Soll erst eine Verfassung erlassen werden, auf deren Grundlage dann ein Präsident gewählt werden kann? Oder soll zuerst ein Präsident gewählt werden, der dann mit seiner Regierung eine Verfassung erlässt? Von der ersten Variante würde, wie bereits an den bisherigen Ereignissen sichtbar wurde, der oberste Militärrat profitieren. Von der letzten Variante würden die islamistischen Parteien profitieren, die auf die Wahlen sehr gut organisatorisch vorbereitet sind. Die in den deutschen Medien beschworene Angst vor den Muslimbrüdern, hält El Masry jedoch für übertrieben. Viel schlimmer seien beispielsweise die Salafisten. Die Muslimbrüderschaft sei nur eine wertkonservative Partei, die sogar wirtschaftsoffen und liberal ist: „Sie ist nichts anderes als eine deutsche CSU.“
Wie es in Ägypten im nächsten Jahr weitergeht, ist offen. Noch werden die Stimmen der Wahl ausgezählt. Die Muslimbrüderschaft wird die Wahl wohl gewinnen. Unklar ist allerdings, ob der Militärrat nach der Wahl von seiner neu gewonnenen Macht ablassen und den Weg für einen demokratischen Übergang wie in Tunesien freimachen wird.