Eine rasante Tour d'Horizon durch die Geschichte und Zukunft Europas bot sich den Zuhörer/innen der gemeinsamen Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V., der Frühlingslese und des Instituts francais anläßlich des 50. Jubiläums des Élyséevertrages.
Zunächst ging es zwar tatsächlich noch um die deutsch-französischen Beziehungen. Beispielsweise um die Frage, inwieweit sich die beiden Völker unterscheiden. Doch schon hier zeigte sich, welches Thema vor allem Ulrike Guérot wirklich am Herzen lag, nämlich Europa und die Europäische Union. So antwortete sie: „Über die Verschiedenartigkeit der Deutschen und Franzosen wurde viel geschrieben. Um von den Klischees wegzugehen: Es sind sozioökonomische und soziokulturelle Unterschiede, die uns Probleme beim Euro machen. Wenn diese beiden Länder sich einigen, hat man so unterschiedliche Länder auf einen Nenner gebracht, dass alle anderen Länder auch noch Platz finden.“
Daniel Cohn-Bendit meinte zu den Unterschieden zwischen den beiden Nachbarvölkern, die sich bis vor einigen Jahrzehnten als sogenannte „Erbfeinde“ bezeichneten: „Ein entscheidender Unterschied ist, dass der Gründungsmythos von Frankreich eine Revolution ist. Für Franzosen aller Schattierungen – ob rechts, ob links – gründet sich die Französische Republik in einem revolutionären Akt.“ Anders in Deutschland. Hinzu käme, dass die Psychen beider Völker sehr geprägt von den grundunterschiedlichen Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg seien.
Auch die zweite Frage, welche Bedeutung die Unterzeichnung des Élyséevertrages am 22. Januar 1963 hätte, passte ohne Zweifel zum Thema des Abends. Ulrike Guérot antwortete: „Am Anfang war dieser Vertrag einfach mal ein Scheitern. Adenauer brachte den Vertrag nicht durch den Bundestag. Damit war für de Gaulle der Vertrag, der den eigentlichen Zweck einer deutsch-französischen Sicherheitspartnerschaft haben sollte, gestorben.“
Schließlich klappte die Unterzeichnung doch noch, die Zusammenarbeit zwischen den Staaten wurde über die Jahre immer enger. Für Cohn-Bendit ist daraus ein Wunder entstanden, „das Wunder der Normalität“: „Diese beiden Völker haben ein normales Verhältnis zueinander. Das ist der zivilisatorische Sprung, das ist die Realität. Man kann miteinander alles regeln. Die Möglichkeit eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich wurde damit einfach ausradiert.“
Eine derzeitige deutsch-französische Erfahrung ist das sogenannte deutsch-französische Tandem; gemeint sind die Staatsoberhäupter, heute Angela Merkel und Francois Hollande. Derzeit habe man den Eindruck, dass es Reibungen zwischen den beiden gäbe, warf Bertrand Leveaux ein. Ulrike Guérot meinte dazu: „Wenn Frankreich und Deutschland sich streiten, kommt Europa voran. Deswegen waren Merkel und Sarkozy ein Desaster für Europa. Wenn Frankreich zum deutschen Pudel wird, dann geht Europa baden. Von der Dynamik ist es gut, dass Hollande und Merkel um den Kompromiss ringen. Nur Frankreich kann in der Mechanik der EU Deutschland Paroli bieten. Deshalb bin ich froh, dass Hollande jetzt diese Rolle einnimmt.“
Und schon gestaltete sich der weitere Abend mit Meinungen zur Europäischen Union – ein weites Feld, wie man weiß und schwierig innerhalb von weniger als zwei Stunden zu erörtern. Guérot und Cohn-Bendit versuchten es trotzdem; dieses Thema ist den beiden augenscheinlich überaus wichtig. Es wurden Fragen zum Euro ebenso angerissen wie die Idee einer Europäischen Arbeitslosenversicherung, die Krise und der Sparkurs, das Thema Wachstum, die Haltung Europas Syrien gegenüber, der neue Nationalismus, die Europäische Jugend.
Konsens der beiden war: „Wenn wir nicht ein gemeinsames europäisches Steckenpferd und am Ende eine europäische Republik haben, werden wir es nicht schaffen“ (Daniel Cohn-Bendit). Laut Ulrike Guérot (und Daniel Cohn-Bendit teilte diese Meinung) brauche es eine europäische Sozialpolitik, eine europäische Arbeitslosenversicherung, eine gemeinsame Energiewende, bessere Infrastrukturnetze und eine vernünftige Sicherheitspolitik. „Wir müssen uns den richtigen Dingen zuwenden, an die systemischen Mängel heranmachen“, sagte sie.
Der erste Schritt laut Cohn-Bendit: Das Europäische Parlament benötige Eigeneinnahmen, nicht das Geld einzelner Staaten. Seine Lieblingssteuer: „Ein Prozent von jedem Telefonanruf kommt in den europäischen Haushalt. Durch diese Eigeneinnahmen machen nicht mehr einzelne Regierungschefs europäische Politik, sondern ein europäisches Parlament.“
Und immer wieder wies Ulrike Guérot auf die Mitverantwortung Deutschlands an der Euro-Krise hin: „Wir sind keine Opfer, sondern Mittäter am europäischen Versagen. Die Eurokrise tut so, als hätten wir noch unabhängige Wirtschaften in den einzelnen Ländern. Und Deutschland sei so toll als Exportstandort. Aber selbst der BMW ist längst europäisch; die einzelnen Autoteile kommen nicht mehr nur aus Deutschland. Natürlich brauchen wir den Ausgleich in Euroland. Europa hat nunmal eine gewisse Geografie, wo manche Regionen leerer sind als andere. Der chauvinistische Unterton von deutscher Seite muss raus. Wir sind ein Land: nämlich Euroland.“
Und Cohn-Bendit setzte hinzu: „Wir haben eine nationale Sicht der Probleme, aber es gibt nicht nur Fehler der anderen. Es genügt nicht, auf die anderen zu zeigen. Verantwortung müssen alle übernehmen. Man kann nicht einfach mit technokratischer Kälte etwas durchsetzen, wo die Bevölkerung nicht mehr mitkommt wie in Griechenland.“
Aber wollen die Menschen ein Euroland? Im Augenblick wohl nicht wirklich. Auch Daniel Cohn-Bendit sieht, dass immer mehr Leute – und nicht nur in Ungarn – wieder in eine autoritäre Richtung gehen, sie entscheiden sich in der Krise für einen Kurs, der gefährlich sei. Deshalb erklärte er: „Wir brauchen die europäische Vision. Wir stecken im Nebel und drehen uns im Kreis. Wenn wir sagen, da wollen wir hin, gibt uns das eine Richtung.“ Ein Anfang sei eine europäische Jugendarbeitslosenversicherung. „Das wäre finanzierbar, das wäre machbar und das hätte eine unglaublich positive Auswirkung“, ist er überzeugt.
Am Ende des Abends staunte Ulrike Guérot: „Daniel und ich vertreten die absolute Minderheit. Und trotzdem kriegen wir auf solchen Veranstaltungen wie heute keine Eier an den Kopf.“ Das lag wohl am speziellen Publikum – echte Europakritiker würden sich kaum dazu verlocken lassen, einen Abend lang Daniel Cohn-Bendit zuzuhören. Doch auch die eher sympathisierende Zuhörerschaft dieses Abends bekam genügend Stoff zum Nachdenken. Möglicherweise hätte das Publikum in die Diskussion früher einbezogen werden sollen. Dazu blieb am Ende zu wenig Zeit.