Um uns selbst ein Bild vom Ausmaß der Freiflächen zu machen, steigen wir auf den rund 60 Meter hohen Turm einer alten Räucherei. Von oben kann man genau sehen, wo früher einmal Gebäude standen und wie viele Lücken ins Stadtbild gerissen wurden. „1989 hatten wir in Dessau noch über 100.000 Einwohner“, erklärt Babette Scurell von der Energieavantgarde Dessau. In der Stadt leben heute noch knapp 84.000 Menschen, einige große Wohnblöcke mussten bereits abgerissen werden, viele alte Industriegebäude stehen leer. So auch der ehemalige Räucherturm, der heute als Aussichtsturm einen Überblick über die Brachflächen liefert. Das klingt wie eine typische Geschichte aus Ostdeutschland, wo das Thema Stadt- oder Landentwicklung stets mit Begriffen wie Strukturschwäche oder demographischem Wandel verknüpft ist. Doch einige der leeren Flächen werden heute für andere Zwecke genutzt: als Dirt-Bike-Strecke eines Skatevereins, für Experimente oder als Anbaufläche für die blaue Kartoffel. Solche und weitere kreative Möglichkeiten, die Zukunft von Stadt und Land nachhaltig zu gestalten, hat Anfang Oktober unsere Exkursion nach Sachsen-Anhalt unter die Lupe genommen – und dabei Inspirationen, aber auch viele Schwierigkeiten gefunden.
Energieautarkie und Selbstversorgung – von oben oder von unten?
Die ersten Programmpunkte der Exkursion standen ganz unter dem Motto Selbstversorgung. Sowohl in der Energieavantgarde Sachsen-Anhalt als auch in der Urbanen Farm Dessau werden Konzepte für eine postfossile Zukunft im ländlichen und im städtischen Raum erprobt. Die Energieavantgarde verfolgt dabei die generelle Idee, die Region durch Kombination großer Energieproduzenten wie den Solarparks in Bitterfeld sowie kleiner Betriebe wie der Alten Brauerei Dessau unabhängig von fossilen Brennstoffen zu machen. Dabei soll durch Transparenz und eine breite Vielfalt an Informationsangeboten auch die Bevölkerung mit einbezogen werden. Die Urbane Farm hingegen nutzt durch den Abriss von Wohngebäuden im Dessauer Stadtteil Am Leipziger Tor entstandene Freiflächen, um unter anderem die blaue Kartoffel anzubauen, die längst zu einer Art Aushängeschild des Projektes geworden ist.
Babette Scurell wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass vor allem die Energieversorgung ein guter Ansatz für zivilgesellschaftliches Engagement sein kann: Da Strompreise oft als zu hoch und als „sinnlose“ Ausgabe empfunden werden, bemühen sich viele Dörfer darum, eine eigene Energieversorgung aufzubauen. Eine autarke Versorgung mit Lebensmitteln scheint dagegen sehr viel mühsamer. Doch im Gespräch mit Heike Brückner von der Urbanen Farm wird deutlich, dass städtische Freiflächen auch sinnvoll für den Anbau von Obst oder Gemüse genutzt werden können. Besonders anschaulich wird bei beiden Projekten die Wichtigkeit der Verbindungen zwischen Stadt und Land: Das Umland wird immer nötig bleiben, um Städte ausreichend zu versorgen.
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Auch wenn die Ideen hinter den Projekten bei den ExkursionsteilnehmerInnen großen Anklang fanden, wurden Fragen zur Beteiligung laut: Der auf den städtischen Freiflächen erwirtschaftete Ertrag kommt bei der „Urbanen Farm“ schließlich nicht den Anwohnern zugute, sondern wird an ein Restaurant verkauft. Nur bei einem Nachbarschaftsfest können die Kartoffeln probiert und für einen kleinen Betrag auch gekauft werden. Doch wäre es nicht wichtig, die Nachbarn bereits vorher zu involvieren und sie beispielsweise in die Entscheidung, was angebaut werden soll, miteinzubeziehen? Reichen die Informationsangebote der Energieavantgarde, um das Projekt für die Menschen vor Ort greifbar zu machen? Und lassen akademisch angehauchte Namen wie „Energieavantgarde“ und „Urbane Farm“ überhaupt zu, dass sich Bürger angesprochen fühlen?
Heike Brückner von der Urbanen Farm entgegnete diesen Fragen, dass es zunächst einmal einen Akteur brauche, um etwas in Gang zu setzen. Anwohner, die selbst etwas anbauen möchten, können sich bei der Urbanen Farm melden – obwohl das Projekt nie auf Widerstände gestoßen ist, hat sich das Engagement hierbei bisher allerdings in Grenzen gehalten. So brachte die Besichtigung der Urbanen Farm neben vielen Inspirationen leider auch die ernüchternde Erkenntnis, dass innovative Ideen allein nicht immer reichen, um ein Projekt gemeinsam mit Anwohnern auf die Beine stellen zu können.
Die Frage nach der Einbeziehung der Bürger in Nachhaltigkeitsprojekten zog sich durch die gesamte Exkursion und wurde rege diskutiert. So wurde auch am zweiten Tag in Ferropolis, einem ehemaligen Braunkohleabbaugebiet, in dem heute große Konzerte und Festivals stattfinden, überlegt, wie es möglich wäre, Anwohner besser ins Projekt zu integrieren und ihre Probleme und Wünsche zu berücksichtigen. Ferropolis plant für Festivals beispielsweise stets einen Nachmittag ein, an welchem sich Anwohner das Gelände kostenlos ansehen können, um einen Eindruck zu gewinnen und zu sehen, „woher der Lärm kommt“, wie es Isa Feller von Ferropolis formulierte.
Nachbar, wir brauchen uns – auf dem Land und in der Stadt?
Viele praktische Tipps, um Menschen in Projekte mit einzubeziehen hatte Veit Urban vom Verein LandLebenKunstWerk, den wir am Nachmittag des ersten Exkursionstages in Quetzdölsdorf besuchten. Der Verein hat es geschafft, Quetzdölsdorf in einen lebendigen Ort mit deutlich spürbarem Gemeinschaftssinn zu verwandeln. Triebfeder der Arbeit im Dorf ist die Frage: „Wie wollen wir leben?“ Für Veit Urban gehört dazu vor allem das Miteinander und das Verständnis, dass Wissen und Bildung auch über Bücher hinaus wichtig sind. So kann jeder zum Dozenten werden, viele allerdings mit Kenntnissen, die in einer Schule wohl nicht als Bildung akzeptiert würden.
Um zu symbolisieren, wie viele verschiedene, teils versteckte Talente in einer Gruppe zu finden sind, fragte Veit Urban alle TeilnehmerInnen der Exkursion nach etwas, das sie in ihrer Freizeit gerne tun. So fanden sich innerhalb der Gruppe Expertinnen und Experten für Holzbearbeitung, Radfahren, Gitarrespielen oder Fotografie – alles Talente, die für das eine oder andere Projekt wichtig sein können. Indem man Menschen etwas zutraut und ihnen zeigt, wie unverzichtbar sie für das Projekt sind, kann man schnell Motivation und Interesse wecken. Denn oft bleiben großartige Talente aus zu wenig Selbstvertrauen unentdeckt.
Mit Hilfe der Dorfgemeinschaft wurden in Quetzdölsdorf schon einige Projekte umgesetzt. Gegenüber dem kleinen See inmitten des Dorfes gibt es zum Beispiel seit Kurzem einen Platz, an dem Dorffeste stattfinden können. Die gesamte Gestaltung inklusive Bänke und Skulpturen wurde von den DorfbewohnerInnen freiwillig übernommen und es wurden ausschließlich Materialien aus dem Ort verwendet. So musste kein Geld aufgebracht werden und es entstand etwas ganz Eigenes. Auch die Bänke rund um den See hat ein Dorfbewohner gefertigt, der in seiner Freizeit gern tischlert. Zudem haben die dörflichen Strukturen schon oft weitergeholfen, wenn ein Bewohner beispielsweise ein eigenes Projekt starten wollte – und direkt wusste, an wen er sich mit welchem Anliegen wenden konnte.
Klar, in den meisten Dörfern gibt es eine Gemeinschaft, die Nachbarn kennen einander und gesellschaftliches Engagement wird hoch gehalten, ob in der Freiwilligen Feuerwehr oder im Heimatverein. Doch lassen sich ähnliche Strukturen auch in Städten etablieren, und wenn ja, wie? Dies wurde auf einem Rundgang durch „Quetz“ angeregt diskutiert, und viele ExkursionsteilnehmerInnen konnten eigene Erfahrungen beisteuern.
Veit Urban konnte jedoch auch berichten, dass die Strukturen in Quetzdölsdorf nicht selbstverständlich sind. Bevor der Verein LandLebenKunstWerk hier sein Quartier bezog, waren bereits andere Dörfer im Gespräch, deren BewohnerInnen sich jedoch als wenig kooperativ herausstellten. Auch die Einbeziehung der Dorfbewohner von Anfang an scheint also keine Garantie darzustellen. Quetzdölsdorf hingegen ist ein inspirierendes Beispiel für eine starke Dorfgemeinschaft, in die sich jede und jeder mit seinen Fähigkeiten und Interessen einbringen kann.