Die Hauptfrage des Abends beantwortet Andreas Zumach gleich in den ersten zwei Minuten: „Ja, man kann Frieden schaffen ohne Waffen!“ Das gehe sogar nur ohne Waffen. Punkt.
Wichtig sei allerdings, differenziert Zumach dann, zu unterscheiden zwischen einem langfristigen Frieden-Schaffen und einem kurzfristigen Einsatz, um einen Völkermord oder Kriegsverbrechen zu verhindern.
Aus pazifistischer Sicht stellt sich im zweiten Fall die grundsätzliche Frage, ob es Situationen gebe, in denen ein Völkermord unmittelbar droht oder sogar bereits begonnen hat, die den Einsatz von militärischen Mitteln zwingend erforderlich machen. Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich laut Zumach allerdings erst einmal die konkreten Fälle anschauen, anhand derer in den letzten zwanzig Jahren immer wieder ein militärisches Eingreifen gefordert wurde.
Der erste Präzedenzfall ist der Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Wie sonst nirgendwo, wusste man hier vorher, dass dort ein Genozid geplant wurde – die UN hatte ein halbes Jahr lang über die Vorbereitungen der Hutus auf den Massenmord berichtet. Diese Fakten legte der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali dem Sicherheitsrat vor und forderte eine robuste „Peacekeeping-Truppe“. Doch kein Mitglied des Sicherheitsrates hatte ein ausreichendes nationales Interesse, sich dort mit Soldaten zu beteiligen und so den Völkermord zu verhindern. Die dort stationierte Blauhelmtruppe wurde sogar noch reduziert. So wurden in 100 Tagen zwischen 800.000 und eine Million Tutsi und moderate Hutus umgebracht. Dieser Völkermord hätte durch eine Peacekeeping-Truppe ohne den Einsatz großer militärischer Mittel verhindert werden können.
Im Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 konnte man sich auch im Rahmen der Vereinten Nationen nicht einigen. Dort schien ein Völkermord zu drohen. Es gab jedoch ebenfalls einen Vorschlag zu dessen friedlicher Verhinderung: Der amerikanische Botschafter schlug vor, eine amerikanisch-russische Eingreiftruppe zu entsenden. Doch dies wurde nicht umgesetzt. Stattdessen bombardierte die NATO Serbien, um den Völkermord zu verhindern. Das Motiv für diese Aktion sei jedoch laut Zumach nicht die Verhinderung einer humanitären Katastrophe gewesen, sondern dass die NATO versuchte, sich nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu legitimieren und dass die USA ihren Führungsanspruch untermauern wollten.
Der neueste Fall, in dem über den legitimen Einsatz von Waffen diskutiert wird, sind die Massaker des sogenannten Islamischen Staats (IS). Auch in diesem Fall gebe es zu dem aktuellen Bedrohungsszenario eine lange Vorgeschichte. Zumach betont, dass wer vom IS sprechen wolle, nicht vom Irakkrieg schweigen dürfe. Der ursächliche Zusammenhang sei offensichtlich. Nach dem Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner wurden von der neuen Regierung sämtliche Sunniten im Irak aus den politischen Ämtern entfernt. Als daraufhin in Jahr 2004 ein sunnitischer Aufstand ausbrach, bewaffneten die Amerikaner die Schiiten, um den Aufstand niederzuschlagen. Im Jahr 2006 wandelte sich das Bild: Dann gab es einen schiitischen Aufstand, der von den Sunniten mit amerikanischen Waffen beendet werden sollte. Als Barack Obama im Jahr 2008 den amerikanischen Rückzug aus dem Irak ankündigt, wird der irakische Staat nochmals mit neuen Waffen ausgerüstet. Laut Zumach wurde kein anderes Land in der Region mit mehr Waffen beliefert als der Irak. Und immer sind diese Waffen auch weitergegeben worden. Dies alles sind die Waffen, mit denen der IS nun die Volksgruppe der Jessiden, den Irak und Syrien bedroht. Und nun sollen von Deutschland weitere Waffen an die Kurden geliefert werden, damit diese den IS zurückschlagen? Zumach hält das für eine „feige Ersatzhandlung“. Wenn es um Menschenrechte und die Verhinderung eines Völkermordes an den Jessiden gehe, dann könnte man auch eine „robuste Friedenstruppe“ mit UN-Mandat einsetzen, die Landkorridore zum Fliehen und zur humanitären Versorgung schafft.
Dies ist auch Zumachs Antwort auf die Frage, wie man mit Situationen umgeht, in denen ein Völkermord droht: Man brauche eine gemeinsame UNO-Eingreiftruppe von etwa 50.000 Mann. Diese Truppe würde in ganz klar definierten Fällen des Völkermords oder der Kriegsverbrechen eingreifen. Sie würde nicht mehr nur auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats entsandt werden, sondern nur auf Mehrheitsbeschluss der UNO-Generalversammlung. Auf diese Weise könnte die gegenseitige Blockade im Sicherheitsrat überwunden werden. Die Truppe würde nicht aus nationalen Kontingenten bestehen, sondern sich aus internationalen Freiwilligen zusammensetzen, die dann gemeinsam ausgebildet werden. Zumach ist sich sicher: „Wenn diese Truppe bereits Bestand 2012 gehabt hätte, hätte sie den Krieg in Syrien verhindern können.“
Mit einer solchen Truppe einen Völkermord zu verhindern, heißt jedoch nicht, dass dort Frieden geschaffen wird. Die Gefahr besteht, dass der Konflikt nur eingefroren wird. Frieden zu schaffen, ist ein langwieriger Prozess. Zumach betont, dass, selbst wenn es jetzt den USA mit militärischen Mitteln gelänge, den Islamischen Staat vollständig zu vernichten, das Hauptproblem dennoch bestehen bleiben würde: Millionen vor allem junger Menschen zwischen Marokko und Pakistan leben ohne Perspektive. Nur wenn es keine Perspektive gebe, könne auch die Religion so verengt werden und zur Radikalisierung beitragen, wie es aktuell dort passiert. Die wichtigste Frage sei daher: Mit welchen politischen und sozialen Mitteln kann das potentielle Nachwuchsreservoir des Islamischen Staats ausgetrocknet werden?
Dafür müsste man nach 14 Jahren des Kriegs gegen den Terrorismus erst einmal fragen, was dieser Krieg überhaupt gebracht habe. Es wurden ein paar 1000 Männer umgebracht, die Washington als Terroristen bezeichnet. Aber es kamen sehr viele zivile Opfer hinzu, durch die wiederum der Hass auf die USA in der Bevölkerung noch größer wurde und eine neue Terroristen-Generation herangezogen wurde. Daher könne man laut Zumach nur resümieren: „Dieser Krieg ist nicht nur gescheitert, er ist sogar kontraproduktiv.“
Gleichzeitig müssten die USA und die Europäer ihre Politik gegenüber dem wichtigsten Förderer des Terrorismus ändern: Alle relevanten Terroranschläge der letzten Jahre seien mit Geld aus Saudi-Arabien finanziert worden. Das saudische Motiv sei es gewesen, den Einfluss des Irans zu schwächen – egal an welchem Ort und durch Unterstützung welcher Gruppierung. Es sei ein „schreiender Widerspruch“, dass der Westen zum einen den Terror bekämpfe, aber zugleich die Finanzierer des Terrors hofiere, nur weil sie der weltgrößte Öllieferant seien.
Auch die Europäische Union müsse ihre Politik ändern: Zunächst würde es schon helfen, wenn die Europäer ihre Verantwortung in der bisherigen Geschichte klar benennen würden. Die meisten Staaten zwischen Marokko und Pakistan waren europäische Kolonien. Nach dem Ende der Kolonialherrschaft wurden die Grenzen der Staaten teilweise willkürlich gezogen – ohne Rücksicht auf ethnische und religiöse Grenzen nach dem Motto „divide et impera“. Im Anschluss daran wurden von den Europäern und Amerikanern dort jahrelang nur die Diktatoren und nicht die zarten Pflänzchen einer aufkeimenden Demokratie, die es ebenfalls gab, unterstützt. Zugleich wurde eine Wirtschaftspolitik verfolgt, durch beispielsweise die lokalen Märkte in Afrika zerstört wurden. Überschüssige Landwirtschaftsexporte aus der EU in den Maghreb zerstörten und zerstören auch heute noch die wirtschaftlichen Lebensbedingungen und die Perspektiven der Menschen.
„Wenn diese schädliche Politik abgestellt werden würde, wäre schon viel getan“, erklärt Zumach. Danach könne man auch über Fördermöglichkeiten nachdenken: Was man in den Regionen brauche, seien gut ausgebildete Fachkräfte in nicht-akademischen Berufen. Darauf habe auch das westdeutsche Modell des Wachstums nach dem zweiten Weltkrieg basiert: Auf der Gründung von mittelständischen Unternehmen. Ein wirklich nützliches Exportmodell könnte dabei auch das deutsche duale Ausbildungssystem sein. Außerdem könnte man deutsche Unternehmen unterstützen, die in der Region investieren, beispielsweise durch Steuererleichterungen, wenn in der Region neue Jobs geschaffen werden.
Auf diese Weise könnten in den Ländern von Marokko bis Pakistan wirtschaftliche Perspektiven für die Menschen geschaffen werden, die Extremismus, Kriege und Völkermorde langfristig verhindern. Die skizzierte kurzfristige UN-Eingreiftruppe wäre dann sogar überflüssig.
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