Thüringen: Noch fehlt ein rot-rot-grünes Gesamtkonzept

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Graffiti in Erfurt

Nach 24 Jahren CDU-Regierung will Rot-Rot-Grün demokratiepolitisch ganz neue Wege gehen. Die neue Koalition kann dabei auf Vorarbeiten und breite Unterstützung aus der Zivilgesellschaft bauen.

Thüringen gilt bisher nicht als Vorreiter in Sachen Demokratiereform. In den 24 Jahren seit der Neugründung 1990 wurde das Bundesland immer – mit absoluter Mehrheit oder in wechselnden Koalitionen – von der CDU regiert. Dies hinterließ deutliche Spuren in der politischen Kultur des Freistaates. So hatte Thüringen jahrelang sehr hohe Hürden für direkte Demokratie. Bis 2003 gab es nur zwei Volksbegehren, die jedoch am hohen Quorum scheiterten. Als diese Hürde durch ein Volksbegehren geändert werden sollte, blockierte die CDU dies zunächst. Auch anderen demokratiepolitischen Reformbaustellen wie der Senkung des Wahlalters, der stärkeren Öffentlichkeit von Ausschüssen oder der informellen Beteiligung bei großen Infrastrukturvorhaben stand sie eher skeptisch gegenüber.

Da die neue rot-rot-grüne Regierung erst kurz im Amt ist, kann es hier nur um eine erste Bestandsaufnahme und Einordnung ihrer Planungen gehen; ein Abgleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist noch nicht möglich.

Die neue Koalition – ein anderer Politikstil

Mit dem Wechsel nach 24 Jahren CDU-Regierung soll ein neuer Politikstil in Thüringen etabliert werden: Ähnlich wie in Baden-Württemberg wird ein klarer Bruch mit der Vorgängerregierung angestrebt. Diesen Anspruch vertritt ausdrücklich auch der SPD-Fraktionsvorsitzende. Zwar waren die Sozialdemokraten Mitglied der Vorgängerregierung; das Verhältnis des kleinen Koalitionspartners zur CDU war jedoch zum Ende der Legislaturperiode stark zerrüttet.

Der neue Stil wurde bereits in den Koalitionsverhandlungen deutlich: Die Linke als stärkste Partei zeigte sich bemüht, nicht als die „Bestimmerpartei“ aufzutreten. Alle Partner sollten gleichberechtigt behandelt werden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund erwähnenswert, dass die Grünen nur etwa ein Viertel so stark wie die Linkspartei und die SPD nur halb so stark im Landtag vertreten ist.

Der Stil der „Kommunikation auf Augenhöhe“ soll die Wahlperiode prägen und auch auf das Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern übertragen werden. So lädt der neue Ministerpräsident Bodo Ramelow in seiner Regierungserklärung (PDF) zu Beteiligung ein, weil „der Überzeugung vieler Menschen, es würde über ihre Köpfe hinweg entschieden, nur dadurch entgegengetreten werden kann, dass Räume geschaffen werden, um Argumente auszutauschen. Wir wollen Betroffene zu Beteiligten machen. Wir wollen zuhören. Wir sehen es nicht als Schwäche, sondern als Respekt vor dem Souverän, unsere Gestaltungskonzepte für das Land auch zu modifizieren, wenn es nötig ist.“

Inwieweit dieser Anspruch vor dem Hintergrund der prekären finanziellen Situation des Freistaates, der erstmaligen und starken CDU-Opposition sowie den demografischen Herausforderungen tatsächlich eingelöst werden kann, muss sich zeigen.

„Mehr Demokratie e.V.“ in Thüringen

Eine wichtige Rolle für die demokratiepolitischen Reformen in Thüringen spielt der Landesverband des Vereins „Mehr Demokratie“. Sein Sprecher, Ralf-Uwe Beck, führt auch den Bundesvorstand an. Im Landesverband hatte sich auch Prof. Dr. Joachim Link nach der Beendigung seiner Tätigkeit als Direktor des Thüringer Landtages engagiert.

Der Landesverband existiert zwar erst seit 2010, ist jedoch aus einer wesentlich älteren Bewegung hervorgegangen – dem „Bündnis für mehr Demokratie in Thüringen“. Diese Initiative hatte sich 1998 gegründet und bündelt seitdem die Interessen von mehr als 20 Vereinen. Auch der Verein „Mehr Demokratie e. V.“ ist dort Mitglied. Die jetzigen Regierungsparteien sind ebenfalls Mitglieder. Gemeinsam erarbeitete das Bündnis immer wieder Gesetzesinitiativen und Reformvorschläge und brachte sie in den Landtag ein. Die Linkspartei verstand sich sogar lange Zeit als dessen „parlamentarischer Arm“. Wesentliche Forderungen von „Mehr Demokratie“ finden sich in den Wahlprogrammen aller drei Regierungsparteien. Im Koalitionsvertrag wird der Verein sogar namentlich erwähnt: „Für die Weiterentwicklung des Wahlrechts und der direkten Demokratie werden Vorschläge des Vereins Mehr Demokratie e.V. in die Diskussion aufgenommen.“

Wesentliches Ziel des Vereins ist der Ausbau der direkten Demokratie. Ralf-Uwe Beck versteht diese als „Damoklesschwert“, durch das alle anderen Formen der Beteiligung erst einen politischen Effekt erhalten können: Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger damit drohen können, dass sie letzten Endes auch für die Parteien bindend über eine Sache entscheiden, würden ihre Anliegen in den anderen Beteiligungsverfahren ernst genommen. Die Vorschläge des Vereins zielen daher weniger auf deliberative Verfahren, sondern mehr auf die Verbesserung der direktdemokratischen Verfahren. Mit diesem Verständnis bestimmt er die demokratiepolitische Reform-Agenda. Dies wird auch an der Geschichte der direktdemokratischen Verfahren in Thüringen deutlich.

Geschichte der direkten Demokratie in Thüringen

Das „Bündnis für mehr Demokratie in Thüringen“ hatte 2000 ein Volksbegehren eingebracht, um die hohen Quoten für Anträge, Volksbegehren und -entscheide zu senken. Dieses Volksbegehren war mit fast 20 Prozent der Stimmberechtigten erfolgreich. Die rechtliche Zulässigkeit des Begehrens wurde jedoch erst nach der Einreichung des Begehrens und nicht bereits bei der Einreichung des Antrags geprüft. Die CDU-Landesregierung übergab das Begehren daher zur Prüfung an das Landesverfassungsgericht, das es 2001 für unzulässig erklärte.
 
Die hohe Beteiligung am Volksbegehren verdeutlichte der CDU dennoch den bestehenden Handlungsbedarf. Daraus entstand eine überparteiliche parlamentarische Initiative, die neun Monate lang über die Verbesserung der Bürgerbeteiligung diskutierte. Einstimmig wurde das entwickelte Gesetz 2003 vom Landtag beschlossen. Es beinhaltete eine Absenkung der Hürden für Anträge, Volksbegehren und -entscheide sowie ein modellhaftes Durchführungsgesetz für den gesamten Beteiligungsprozess.

Reformbestrebungen

Diese Vorgeschichte prägt auch die demokratiepolitischen Vorhaben der neuen Koalition. In mindestens vier Bereichen will Rot-Rot-Grün Reformen umsetzen:

  1. Durch eine Änderung der Kommunalordnung sollen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Durchführung von Bürgerbegehren weiterentwickelt werden.
  2. Das sogenannte Finanztabu für Volksbegehren soll gemildert werden, um ein größeres Spektrum an Themen für Begehren zuzulassen.
  3. Das Wahlrecht soll reformiert werden, um das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 16 herabzusetzen.
  4. Das Informationsfreiheitsgesetz soll reformiert und die Transparenz des Regierungs- und Verwaltungshandelns erhöht werden.
Verbesserung der Rahmenbedingungen von Bürgerbegehren

Thüringen will die Kommunalordnung an den Stand der Bürgerbeteiligungsverfahren in anderen Bundesländern anpassen und weiterentwickeln. Eingeführt bzw. geändert werden soll: das Recht der Antragsteller auf Beratung durch die Gemeinden; eine verpflichtende Information durch die Gemeinde vor den Bürgerentscheiden; die Möglichkeit für die Gemeinde, einen Alternativantrag zur Wahl zu stellen; die Kostenerstattung für die Antragsteller des Bürgerbegehrens. Ebenfalls wird über die Einführung eines Ratsreferendums nachgedacht, mit dessen Hilfe der Gemeinderat über ein Anliegen in seinem Zuständigkeitsbereich einen Bürgerentscheid erwirken kann.

Abschwächung des Finanztabus bei Volksbegehren

In der Thüringer Verfassung ist das sogenannte Finanztabu für Volksbegehren verankert: „Volksbegehren zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben und Personalentscheidungen sind unzulässig.“ (Art. 82 Abs. 2) Dieses Tabu wurde durch das Urteil des Landesverfassungsgerichts zum ersten Volksbegehren 2001 noch verstärkt. Das Haushaltsrecht des Parlaments wurde zu einem „Ewigkeitsrecht“ erklärt, das nicht durch Volksbegehren angetastet werden dürfe.

Thüringen strebt nun eine Lösung wie in Berlin an. Dort hat das Verfassungsgericht das ebenfalls in der Verfassung verankerte Wort „Landeshaushalt“ im Sinne des Wortes „Landeshaushaltsgesetz“ ausgelegt. Somit sind zwar Volksbegehren zum aktuellen Landeshaushaltsgesetz nicht zulässig, dies betrifft aber nicht ein künftiges, noch nicht aufgestelltes Haushaltsgesetz. Daher kann der Gesetzgeber durch ein Volksbegehren verpflichtet werden, das Landeshaushaltsgesetz des kommenden Jahres an die Forderung des Volksbegehrens anzupassen. Personalentscheidungen wären davon weiterhin ausgenommen.

Für eine entsprechende Änderung der Landesverfassung Thüringens wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament nötig. Dies ginge nur mit Zustimmung der CDU. Inwieweit diese zu einer solchen Initiative bereit wäre, ist noch offen. Denkbar wäre allerdings auch – falls der parlamentarische Weg versperrt sein sollte –, dass das „Bündnis für mehr Demokratie in Thüringen“ ein Volksbegehren zu diesem Thema anstrebt.

Reform des Wahlrechts

Alle drei Koalitionsparteien streben die Absenkung des Wahlalters bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre an. Inwieweit dies auch für Landtagswahlen gelten kann, wollen die Fraktionen prüfen lassen. Der neuen Koalition gehe es dabei nicht um die Steigerung der Wahlbeteiligung, sondern um die Frage, wer das Volk sei und damit den 16-Jährigen verbieten könne zu wählen. Und es gehe um größere Bürgerbeteiligung, lauten die Erklärungen unisono.

Ob eine Absenkung des Wahlalters umgesetzt werden kann, ist fraglich. Die Änderung der Kommunalordnung kann zwar mit einfacher Mehrheit im Landtag beschlossen werden, die Altersgrenze steht aber auch in der Landesverfassung, deren Änderung die CDU zustimmen müsste. Allerdings ist es in Deutschland generell üblich, dass Wahlrechtsänderungen überfraktionell diskutiert und beschlossen werden. Insofern könnte durch eine solche Initiative möglicherweise einer der beiden Aspekte umgesetzt werden.

Reform des Informationsfreiheitsgesetzes und Verbesserung der Transparenz

„Frühzeitige Transparenz“ lautet das Motto der neuen Landesregierung. Das Informationsfreiheitsgesetz soll daher überarbeitet werden und – zumindest nach Vorstellung der Grünen – an das richtungsweisende Hamburger Gesetz angepasst werden. Es soll zudem ein „zentrales Informationsregister“ entwickelt werden, über das vom Land erhobene Daten abgerufen werden können. Thüringen will sich dafür an der bundesweiten Plattform „GoVData“ beteiligen. Überlegt wird auch, ob eine Vorhabenliste mit den Projekten der Landesregierung und der einzelnen Ministerien veröffentlicht werden kann.

Ausschuss-Sitzungen sollen im Grundsatz öffentlich sein und live übertragen werden, und nur in Ausnahmefällen (z. B. bei Personalfragen) nicht öffentlich sein. Mittels eines Transparenzregisters soll offengelegt werden, welche Organisationen und Einzelpersonen an parlamentarischen Vorgängen beteiligt sind. Geprüft werden soll zudem, ob eine Karenzzeit zwischen dem Ausscheiden aus dem Amt und der Übernahme einer neuen Tätigkeit eingeführt werden kann.

Nach der Erfahrung des Thüringer Untersuchungsausschusses zur Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds soll nun auch das Untersuchungsausschussgesetz überarbeitet werden. Ziel ist laut Koalitionsvertrag, „die Untersuchungsinstrumente des Landtags sowie Öffentlichkeit und Transparenz der Ausschussarbeit zu stärken“.

Großprojekte und Bürgerbeteiligung

Eines der wichtigsten Großprojekte der kommenden Jahre wird die Funktional-, Verwaltungs- und Gebietsreform. Insbesondere die demografische Entwicklung erzwingt bei leerer werdenden ländlichen Räumen den Zusammenschluss zu größeren funktionalen Einheiten. Eine Expertenkommission hatte dazu 2013 bereits einen Vorschlag entwickelt, der von der CDU-Regierung abgelehnt, von den jetzigen Regierungsparteien aber begrüßt wurde. Rot-Rot-Grün will nun gemeinsam mit allen Beteiligten – im Sinne des oben beschriebenen neuen Politikstils – eine Lösung finden.

Eines der wenigen Großprojekte im Energiebereich in Thüringen ist das Pumpspeicherwerk Schmalwasser, das am Rennsteig gebaut werden soll. Um den Bau des dazu nötigen Oberbeckens zu verhindern, hatte sich vor Ort eine Bürgerinitiative gegründet. Auf Initiative des Bürgermeisters wurde ein Runder Tisch gegründet, an dem seit 2012 alle Beteiligten über die Gestaltung des Projekts diskutieren.
 
Grundsätzlich will die neue Koalition bei Energiegroßprojekten im Genehmigungsverfahren und bei der Umsetzung der Projekte eine größere Bürgerbeteiligung erreichen. Laut Koalitionsvertrag soll ein „Prozess der Verständigung zur ergebnisoffenen, fairen, vorförmlichen Bürgerbeteiligung bei Großprojekten“ initiiert werden. Darauf basierend soll dann gemeinsam mit allen Beteiligten ein „Kodex der Bürgerbeteiligung“ entwickelt werden.

Wo ist das Gesamtkonzept?

Trotz verschiedener einzelner Vorhaben ist ein schlüssiges Gesamtkonzept für die Demokratiereform und die Bürgerbeteiligung bisher nicht zu erkennen. Auch die Verantwortung für die Umsetzung der Vorhaben ist bisher noch nicht politisch und administrativ verortet. So gibt es keine zentrale Stabsstelle für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung wie beispielsweise in Baden-Württemberg. Auch eine Kommission wie z. B. die Enquete „Aktive Bürgerbeteiligung für eine starke Demokratie“ in Rheinland-Pfalz oder etwa der Ausbau des „Thüringen-Monitors“ zu einem handlungsorientierten Demokratie-Monitoring ist bisher nicht geplant.

Bürgerbeteiligung und Demokratiereformen sollen als Querschnittsaufgabe von allen Ministerien behandelt werden. Die fehlende zentrale Steuerung muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, betonen Vertreterinnen und Vertreter der Grünen, da auf diese Weise die Ministerien selbst die Beteiligungskultur etablieren und somit auch dahinter stehen müssten.

Derzeit ist Thüringen das einzige ostdeutsche Bundesland mit grüner Regierungsbeteiligung. Ob grün den Unterschied macht, wird auch daran abzulesen sein, ob Thüringen zumindest im Osten zum Pionier einer neuen Beteiligungskultur wird.