Das Parlament hat die Verlängerung des Ausnahmezustands um drei Monate beschlossen, außenpolitische Koordinaten verschieben sich seit dem Anschlag rasant. Was passiert da gerade in Frankreich?
Der Verkehr rollt wieder. Über den Boulevard Voltaire, vorbei an der Konzerthalle und Café Bataclan. Tagelang war hier alles abgesperrt, war die gesamte Weltpresse mit unzähligen Übertragungswagen vor Ort, um über die furchtbaren Anschläge zu berichten. Blumen, Kerzen, viele kleine Zettel und Zeichnungen erinnern daran, schräg gegenüber, am Boulevard Richard Lenoir. Dorthin kommen weiter Menschen, gedenken der Opfer. Wie auch bei den attackierten Cafés und Restaurants, nur einige Minuten entfernt. Trotzig leuchtet auf der Anzeigetafel der Gemeinde des 11. Arrondissements, welche sonst über die (meist schlechten) Luftwerte informiert, über das Wetter und Veranstaltungen im Rathaus, jetzt „fluctuat nec mergitur“, „Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“, der Leitspruch im Stadtwappen von Paris, vielfach variiert in den sozialen Netzwerken. Der Comic-Autor und Regisseur Johannes Sfar übersetzte es frei als „merde à la mort“, dem „Tod den Stinkefinger zeigen“.
Der Verkehr rollt und staut sich wieder, die Metros fahren, die Menschen in Paris gehen zur Arbeit, sie gehen in die Bistros und Cafés, setzen sich bewusst auf die Terrassen. Sie wollen sich ihre Lebensvorstellungen und Lebensweise nicht von Terroristen vorschreiben lassen. Und doch ist hier alles anders seit dem 13. November. Die Leichtigkeit, die Lässigkeit, die kraftvolle Lebensfreude, die gerade diese Viertel von Paris, das 10. und 11. Arrondissement ausgezeichnet haben, sie sind weggewischt. Das pulsierende Herz von Paris ist verwundet, die Hauptstadt tief ins Mark getroffen. Aber nicht nur das, ganz Frankreich ist außer sich, der schlimmste Terroranschlag in der französischen Geschichte verändert das Land.
Der Präsident, seine Regierung, aber auch viele Medien und gesellschaftliche Organisationen, wie die Gewerkschaften, sprechen von Krieg, Frankreich befinde sich im Krieg. Breit geteilt wird, dass es jetzt um die Verteidigung der Republik gehe, ihre Grundfesten. Die Stimmung ist ganz anders als nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, die zu einem leidenschaftlichen Bekenntnis zu den Werten und Lebensvorstellungen der französischen Republik geführt hat. Da erscheint es fast als Fußnote, wenn Verfassungsrechtler einwenden, dass laut Artikel 36 der Verfassung nur das Parlament erklären kann, Frankreich sei im Krieg - und Präsident Hollande das Parlament dazu bislang nicht aufgefordert hat. Im Fokus steht der erklärte Krieg gegen den IS.
Demonstrationen verboten
Im Innern gilt jetzt für drei Monate der Ausnahmezustand. Er ist auf Antrag der Regierung heute von der Assemblée Nationale, dem Parlament, mit überwältigender Mehrheit beschlossen worden. Am Freitag muss die zweite Kammer, der Senat, noch zustimmen. Die Mehrheiten dafür steht, umso mehr seitdem am Mittwoch eine weitere Terrorzelle in Saint-Denis im Norden von Paris entdeckt und mitten in dieser Vorstadt bekämpft wurde. Einige Bestimmungen des Gesetzes zum Ausnahmezustand von 1955 werden noch verschärft, etwa die Möglichkeit, Hausarreste zu verhängen oder gefährliche Gruppierungen aufzulösen, andere Bestimmungen werden gestrichen, wie die bislang vorgesehene Möglichkeit zur Zensur der Presse und Medien. Versammlungen und Veranstaltungen können allerdings ohne Weiteres verboten werden.
In den Metrostationen hängen noch die Plakate, die zu der großen Demonstration am 29. November in Paris aufrufen, vor Beginn des Klimagipfels am 30. November. Außenminister Laurent Fabius hat heute angekündigt, dass diese wie andere Demonstrationen nicht stattfinden dürfen. Über 130 in der Klima-Koalition 21 versammelten NGOs hatten zuvor gefordert, dass wenn der Klimagipfel in Paris tagen wird, es auch eine Beteiligung und Mobilisierungsmöglichkeit der Zivilgesellschaft geben muss, dass es nicht nur einen Gipfel der Regierungen hinter verschlossenen und hoch gesicherten Türen geben darf. Die NGOs halten auch weiterhin daran fest, dass sie sich im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten beteiligen wollen und hörbar sein wollen.
Erlaubt und möglich werden auch weiterhin Veranstaltungen in geschlossenen Räumen sein, die leicht zu sichern sind. Aber der in zehn Tagen beginnende Klimagipfel interessiert verständlicherweise nur noch wenig in Frankreich. Da hilft der Hinweis der NGOs und auch der französischen Grünen, die immer noch existierende Abhängigkeit von Öl und die entsprechenden Öldollars wären ein wichtiger Faktor bei den Krisen und Konflikten im Nahen Osten oder dass der Klimaschutz mit einer konsequenten Energiewende diesen Faktor eindämmen könnte, wenig.
Außenpolitische Koordinaten verschieben sich
Entschlossenes Handeln gegen den IS und Verschärfungen in der Sicherheitspolitik stehen im Mittelpunkt, Präsident Hollande hat dabei das Heft des Handelns in der Hand. Dabei macht er sich nicht nur viele Forderungen der französischen Rechten, wie etwa die Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Franzosen, die gegen die Republik kämpfen, zu eigen - auch wenn sein Innenminister Bernard Cazeneuve im vergangenen Januar Oppositionsführer Nicolas Sarkozy noch erklärt hatte, das verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Völlig in den Hintergrund gerät auch die Frage, was gegen die Radikalisierung Jugendlicher in den Vorstädten Frankreichs und offenkundig auch mitten in Brüssel getan werden kann.
In rasantem Tempo verschieben sich dagegen außenpolitischen Prioritäten und Koordinaten Frankreichs: Bislang galt als klare Linie, dass Syriens Diktator Baschar al-Assad von der Macht entfernt werden muss und der IS bekämpft werden muss. Im Konflikt in der Ostukraine sorgte Francois Hollande mit Angela Merkel dafür, dass es eine einheitliche, klare europäische Linie gegenüber Russland mit entsprechenden Sanktionen gibt. Jetzt zeichnet sich zunehmend als neue Leitlinie der französischen Außenpolitik ab: Den IS zu bekämpfen hat höchste Priorität, dahinter muss die Frage des Umgangs mit Assad zurückstehen. Dafür muss jetzt auch eng mit Russland kooperiert werden.
Zwar wird Präsident Hollande nächste Woche zunächst nach Washington zu Gesprächen mit US-Präsident Obama reisen und erst zwei Tage später zu Russlands Präsident Putin. Auch sind Obama und Putin über ein gemeinsames Vorgehen in Syrien im Gespräch. Es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass die französische Regierung den militärischen Beistand seiner EU-Partner nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages eingefordert hat und nicht nach Artikel 5 des NATO-Vertrages, um Russland nicht zu vergrätzen und eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. Ungeachtet der Tatsache, dass Russlands militärische Einsätze in Syrien bislang offenkundig vor allem darauf ausgerichtet waren, die Opposition gegen Assad zu schwächen, und nicht den IS. Auch wenn Hollande angekündigt hat, eine internationale Allianz gegen den IS schmieden zu wollen und die EU-Partner um Beistand gebeten wurden, könnte damit Frankreich im Alleingang einer strategischen Allianz mit Russland Priorität gegenüber dem westlichen Militärbündnis wie auch einem abgestimmten, gemeinsamen Vorgehen innerhalb der Europäischen Union den Vorrang geben.
Breite Unterstützung für Hollandes Maßnahmen
Bislang werden Präsident Hollandes innen- wie außenpolitische Maßnahmen ersten Umfragen zufolge von einer breiten Mehrheit der Französinnen und Franzosen unterstützt. Im Unterschied zu den Tagen nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo im Januar war es diesmal aber im politischen Raum schnell vorbei mit einer Einheit, wurde die Regierung Hollande und Valls sofort von Oppositionsführer Nicolas Sarkozy und auch von Marine Le Pen von der rechtsextremen Front National hart für ihre vermeintlich zu laxe Sicherheitspolitik attackiert.
Demgegenüber hat sich allerdings der härteste Rivale von Sarkozy im bürgerlichen Lager um die Frage der Präsidentschaftskandidatur, Alain Juppé, deutlich zurückgehalten und die Notwendigkeit einer nationalen Einheit in diesen Stunden und Tagen betont. Die Debatten zur Sicherheitspolitik und dem Kampf gegen den IS werden auch den Wahlkampf für die wichtigen Regionalwahlen am 6. und 13. Dezember prägen. Wenn sie denn wirklich stattfinden werden. Erste Verfassungsrechtler haben bereits darauf verwiesen, dass es problematisch sei, in einer Phase des Ausnahmezustandes demokratische Wahlen abhalten zu wollen, wenn etwa die Präfekten, die Vertreter der Regierung vor Ort, Veranstaltungen und Versammlungen jederzeit ohne Weiteres verbieten können.