Flugzeugträger werden versetzt, ein Hauch von Mobilmachung liegt in der Luft. Doch den Kampf gegen den Terror gewinnen wir nicht mit Militär und Sicherheitsgesetzen. Ein Kommentar.
So schnell geht das also. Letztes Jahr haben wir noch aufwendig die Erinnerung an 1914 zelebriert und das so etwas nie mehr passieren soll! Dann waren wir gerade noch damit beschäftigt, das „Friedensprojekt Europa“, das uns plötzlich wegen GREXIT- und Flüchtlingskrise nicht mehr schmeckte, sang- und klanglos zu beerdigen. Jetzt ist also schon Krieg. Die Zeitenwende geht wirklich sehr schnell in diesen Tagen.
Schon werden Flugzeugträger versetzt, ein Hauch von Mobilmachung liegt in der Luft. Um es vorweg zu sagen: Die Anschläge auf Paris waren heimtückisch, martialisch und barbarisch und sind durch nichts zu entschuldigen. Ein Akt des Terrors, der Angst verbreiten sollte. Das ist es, was Terror macht. Indes, nur einen Tag vor Paris, töteten zwei Selbstmordattentäter in Beirut mehr als 40 Menschen. Das Brandenburger Tor, die Oper in Sydney, das Rathaus in San Francisco in den Farben der Trikolore. Nous Sommes Unis und #Pray for Paris auf Twitter. Ja, wir sind alle Paris! Wer aber trauert um die Toten von Beirut? Oder um die Bombenopfer von Yola in Nigeria mit 30 Toten heute? Jetzt soll „Krieg“ sein, nur weil es um unser Leben geht? Wo dieser Terror woanders doch schon so lange andauert, er uns nur nicht interessiert hat?
Werte verteidigen sieht anders aus!
Wer vom Krieg redet, muss sagen, was er will. Krieg ist ein völkerrechtlicher Begriff. Doch lässt sich das, was gerade passiert, mit klassischem völkerrechtlichen Vokabular fassen? Geht es wirklich um den Irak, Russland oder die UN als Hauptakteure? Oder um den EU-Verteidigungsfall nach Art. 42.7 EUV? Werden wir formal den Krieg erklären und wenn ja wem? Dem ISIS – der Staat sein will, aber keiner ist? Und was ist unser Kriegsziel? Die vollständige Vernichtung des ISIS und die vollständige Befreiung des syrischen Volkes von Bashar al-Assad? Eine Art „Normandie-Landung“, als 1944 die tapferen Alliierten Europa von Hitler Deutschland befreit haben? Wenn dem so wäre – ich bin keine Pazifistin – ich wäre vielleicht sogar dafür; es gilt Joschka Fischers Diktum "Nie wieder Krieg, nie wieder Ausschwitz." Aber Bodentruppen wollen wir natürlich nicht. Denn die unangenehme Wahrheit ist: wir wollen nicht unsere Werte, sondern unsere Sicherheit, unser Leben und unseren Wohlstand (aber bitte nur für uns!) verteidigen.
Wenn es um die Verteidigung unserer Werte ginge, dann hätten wir diese schon lange verteidigen sollen: bei jedem Youtube-Video mit der Hinrichtung eines westlichen Journalisten; als Boko Haram letztes Jahr 200 Mädchen entführt hat und nach denen kein Hahn mehr kräht; oder spätestens, als ISIS im Mai dieses Jahres in Palmyra einen Teil des Weltkulturerbes in die Luft gesprengt hat. Aber dazu waren wir eben nicht bereit. Ja, wir haben ein paar Kurden Waffen gegeben und ein paar – unbemannte – Drohnen geschickt. Werte verteidigen sieht anders aus!
Steigbügelhalten für die Aufrüstung des Sicherheitsapparats
Mit dem Gerede von der ‚Verteidigung unserer Werte’ wird letztlich nur der Steigbügel gehalten für eine maßlose Aufrüstung von Polizei-und Sicherheitsmaßnahmen in ganz Europa. Das aber führt in die Sackgasse, weil der ISIS damit genau das bekommt, was er will: dass wir uns selber unserer Freiheit berauben und demnächst unter Video-Kameras ins Restaurant gehen, den Pass beim Kirchgang zeigen und uns beim Kinobesuch die Tasche auf Waffen untersuchen lassen.
84% der Franzosen sind aktuellen Umfragen zufolge bereit zu einer Einschränkung der Freiheit, über 60% für die Inhaftierung von Verdächtigen, 67% waren am Sonntag in einer ad-hoc Umfrage – zugegebenermaßen unter Schock – sogar bereit, gegebenenfalls das politische System gegen mehr Sicherheit einzutauschen. Das Versammlungsrecht ist in Frankeich bereits vorübergehend außer Kraft gesetzt. Mit so einem Frankreich ist ein freies Europa nicht zu machen! Vor diesem Hintergrund darf auch darauf hingewiesen werden, dass Marine Le Pen von Moskau finanziert wird und mithin Putins Agentin in Europa ist. Der Front Nationale hat seit 2012 um 15 Prozentpunkte zugelegt. In einigen Regionen liegt er längst weit über der 30 Prozent-Marke, auf die anstehenden Regionalwahlen darf man gespannt sein. Mit Putin wollen wir ja schon wieder kooperieren. Demnächst auch mit dem Front Nationale?
Navid Kermani hat in seiner Buchpreis-Rede dem christlichen Pater Jacques die Verteidigung des Islams überlassen und in Frankfurt gesagt: "Die Liebe zum Eigenen erweist sich in der Selbstkritik." Vielleicht ist das jetzt unsere Aufgabe? Anstatt moralisch wie real aufzurüsten, Schutzwälle zu ziehen und den Krieg auszurufen, sollten wir vielleicht einmal damit anfangen, unsere moralische Überlegenheit kritisch zu hinterfragen. Im Hegelschen Sinne sind wir der Knecht, der sein nacktes Leben verteidigen will; oder im Sinne von Walter Benjamin Diener des "Kapitalismus als Religion", wie auch der aktuelle Star-Philosoph Byong-Chul Han in seinem neuen Buch Psychopolitik anmerkt.
Wir treten unsere Werte mit Füßen
Die tief empfundene Unstimmigkeit zwischen unseren proklamierten Werten und der Realität ist nämlich die Nährquelle des ISIS, schreibt Pankaj Mischra, jener Werterelativismus, der unsere Gesellschaft charakterisiert: „Mit Begriffen wie Demokratie oder Freiheit stützen wir immer noch die Mauern eines offenkundig dysfunktionalen Systems und streiten die Widersprüche und Kosten eines einer kleinen Minderheit des Planeten vorbehaltenen Fortschritts ab.“ De facto treten wir unsere ‚Werte’ mit Füßen, ganz egal wohin wir schauen. Wir rüsten die Saudis bis unter die Zähne, kooperieren mit den miesesten afrikanischen Staatschefs, erliegen dem Diktat des Geldes und stellen gerade unter Beweis, wie wenig uns ein Flüchtlings-Menschenleben wert ist. Ganz abgesehen davon, dass wir uns nicht schwer tun, ganze Bevölkerungsschichten in den sozialen Abgrund zu stürzen, und dabei auch noch Raubbau am Planeten in gigantomanischer Manier zu betrieben. Wir sind ganz sicher die Reichen; aber in den Augen vieler schon lange nicht mehr die Guten – und in den Augen einiger sind wir die Barbaren. Vielleicht will uns der ISIS das sagen? Und vielleicht wollen wir genau das nicht hören?
Das große Problem ist, dass unsere strukturelle Gewalt eben sublimiert und diffus ist – wer ist genau dafür verantwortlich? Während die Gewalt der Terroristen eine individuelle ist: sie trifft einzelne Menschen, Bekannte, Freunde, die für das Ganze zur Rechenschaft gezogen werden. Wie man aus dieser Asymmetrie ausbrechen kann, das wäre die Denkaufgabe, der wir uns stellen sollten.
"Ehrentod" statt deklassiertes Leben
Uns erscheint es schleierhaft, ja abscheulich, dass junge Muslime lieber den „Ehrentod“ wählen, als ein deklassiertes Leben in unseren Gesellschaften zu führen, weil unser Freiheitsbegriff ihnen nicht zugute kommt. Importe schaffen Arbeitslosigkeit. Das ist die Kehrseite ist unseres Exportstolzes. Und wenn die jungen Muslime dann zu uns kommen, gewähren wir ihnen ein Randdasein. Gunnar Heinsohn beschreibt in seinem brillanten Buch „Söhne und Weltmacht“ den Zusammenhang von "Youth bulge", dem Überhang von Söhnen, und Terror. Zu viele muslimische Söhne haben kein ehrenwertes Leben zu erwarten. Könnten wir darüber nachdenken, ihnen gar eins anbieten? Sich von Gefahren – z.B. durch Teilen? - freizukaufen ist ein anthropologischer Klassiker und vielleicht billiger als Krieg.
Fakt ist: Solange wir nicht begreifen, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert hat, solange haben wir den Krieg gegen ISIS schon verloren, noch bevor er richtig angefangen hat.
Flugzeugträger gegen Sprengstoffgürtel, das wird nicht funktionieren
Denn wir haben vergessen, dass die Begriffe, Anstand, Moral und Scham immer der eigentliche Kitt von Gesellschaften waren. Aber mit diesen Begriffen können wir nicht mehr viel anfangen. Bei uns sind Menschenleben sehr teuer. Für den ISIS aber sind sie unbezahlbar. Deshalb kann man seine jungen Krieger nicht ‚kaufen’. Genau das macht den ISIS so stark. Der ISIS führt seinen asymmetrischen Krieg mit einer Waffe, die zugleich seine Währung ist und in der wir nicht bezahlen können: Menschenleben. Das ist unsere Achillesferse, auf die der ISIS seine giftigen Pfeile zielt. Nicht die umfangreichsten Sicherheitsmaßnahmen werden diese Achillesferse absichern. Mit jeder Drohne, mit der wir – unbemannt – Bomben abwerfen und ISIS Stellungen bombardieren, wird er unsere Städte in Europa in die Luft sprengen und wir werden immer nur mehr Angst haben. Die Botschaft des ISIS, über die wir meditieren sollten, ist, dass wir das Hasenherz sind, so absurd und abscheulich wir die Heldentode auch finden. Dass das Fußballspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden abgesagt wurde, das doch eigentlich als Schulterschluss und Inszenierung unseres Bekenntnis zur freiheitlichen Lebensweise gedacht war, ist ein erstes Indiz dafür. Flugzeugträger gegen Sprengstoffgürtel, das wird nicht funktionieren. Der ISIS ist hier David gegen Goliath und wir wissen, wer gewonnen hat. Man kann es auch mit dem römischen Philosophen Juvenal sagen: "Betrachte es als die größte Scham, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham; und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren.“ Auch unsere Helden haben sich immer danach gerichtet.
Wenn hier unser wunder Punkt ist, dann gewinnen wir diesen Kampf gegen den Terror nicht mit Flugzeugträgern. Sondern erstens mit Mut. Zweitens mit Moral, indem wir wieder Anstand und nicht Effizienz zur Maxime unserer Gesellschaften machen. Und drittens vielleicht damit, dass wir jetzt Geld - statt in monströse Militär-und Sicherheitsmaßnahmen - in die Pariser und Brüsseler Vororte stecken, aus denen die Attentäter kamen, und diese so lebenswert machen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, sich in die Luft zu sprengen. Die ISIS-Kämpfer davon zu überzeugen, dass unser Leben sich zu leben lohnt und dass wir alle an unserem schönen Leben teilhaben lassen, das ist die eigentliche Aufgabe, die sich uns stellt.
Literatur zum Thema:
- Gunnar Heinsohn: Söhne und Weltmacht, München: Piper 2008
- Pankaj Mischra: ISIS. Die Attraktion des Ressentiments und der bevorstehende Flächenbrand, in: La Lettre Internationale, Herbst 2015, S. 31-36
- Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 1993
- Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt/ M.: Fischer (Wissenschaft)