Der Luthersaal des Augustinerklosters war am Abend des vierten Dezembers bis auf den letzten Platz besetzt. Ein erwartungsvolles und interessiertes Publikum war gekommen, um zu hören, was die Autorin Jenny Erpenbeck zu den derzeit drängendsten gesellschaftlichen Fragen zu sagen hat, behandelt sie doch in ihrem neuesten Roman „Gehen, ging, gegangen“ das Thema Flüchtlinge. Neben Passagen aus diesem Roman, die Jenny Erpenbeck auf Einladung des Erfurter Herbstlese e.V. in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V. las, führte Henry Bernhard, Landeskorrespondent Thüringen des Deutschlandradios, ein Gespräch mit der Schriftstellerin.
Die Rahmenhandlung des Romans ist schnell erzählt: Richard, emeritierter Professor, versucht, mit seinem Ruhestand umzugehen. Schließlich begegnet er afrikanischen Flüchtlingen, die in Berlin leben und beginnt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, Fragen zu stellen, Antworten auch auf eigene Lebensfragen zu finden.
Erpenbeck selbst hat im Sommer 2014 begonnen, auf Flüchtlinge zuzugehen – als Recherche für dieses Buch. Seither begleitet sie die Männer. Sie erzählt: „Ich habe geschaut, was bei der Recherche passiert und Dinge zeitversetzt geschrieben. Der Sinn von dem Buch war auch, mich anzuschauen, meine Freunde anzuschauen, die Leute anzuschauen, die auf der hiesigen Seite der Sache stehen.“ Wie sieht der Umgang mit den eigenen Vorurteilen aus? Das war eine der zentralen Fragen, die Jenny Erpenbeck zu diesem Thema interessierten. Dennoch sei der Roman kein Rechercheroman. Es gehe vielmehr um wesentliche Fragestellungen wie: Was ist Grenze? Welche Bedeutung hat Zeit? Wie wichtig ist Erinnerung? Es gehe um die Frage nach Identität.
Erpenbeck hat, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel meint, „den Roman der Stunde geschrieben“. Dazu die Autorin: „Jetzt sind die Flüchtlinge tatsächlich in der Mitte der Wahrnehmung angekommen, aber das war nicht absehbar. Jetzt ist es so, dass sie tatsächlich vor unserer Haustür sind und nicht wissen, wie sie den Winter überstehen sollen“. Und: „Ich bin froh, dass es das Buch gibt. Das hätte auch jemand anders schreiben können, hat er aber nicht.“
Im Buch kümmert sich Richard, der viel Zeit hat, um junge Männer aus Afrika, die seit Jahren zum Warten verurteilt sind aus keinem anderen Grund als aus jenem, weil Deutschland nach der Verordnung „Dublin II“ nicht zuständig für sie ist. Jenny Erpenbeck hat genau das selbst bei den Flüchtlingen, die sie kennenlernte, erlebt: „Sie dürfen in Deutschland nicht arbeiten, weil sie in Italien angekommen sind. Sie dürfen keine Wohnung mieten, keine Familie gründen und so ihr altes Leben nicht hinter sich lassen“. Also sollte man getreu dem Zitat von Heinrich Böll: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, welches das Leitmotiv für die Arbeit der Böll-Stiftung Thüringen ist, handeln? Oder, wie Henry Bernhard Jenny Erpenbeck fragte: „Ist das Buch in dem Sinne ein Handlungsmodell dafür, wie es laufen sollte?“ – „Nein“, sagt sie. „Das Ende wird von mir als ironisch gemeinte Unlösung erzählt. Man kann Dinge nicht privat lösen. Es muss Gesetze geben, die sicherstellen, dass man zusammen leben kann.“ Und: „Manche Gesetze müssen dringend geändert werden, weil diese Gesetze gute Entwicklungen verhindern auf eine Weise, die unserer Gesellschaft schadet. Die idiotische Regelung, dass die Menschen nur im Erstaufnahmeland arbeiten dürfen, muss weg. Wenn man den Leuten fünf Jahre geben würde, kann jeder integriert werden. Es ist nötig, dass Deutschkurse gegeben und Dinge unterrichtet werden mit viel Geduld. Ich finde, dass Handwerker, die uns so dringend fehlen, durchaus eine schwarze Hautfarbe haben können.“
Dennoch hat Jenny Erpenbeck wie ihr Protagonist Richard ein Grundstück in Ghana gekauft. Das habe gerade einmal vierzehn Stunden gedauert. „Es ist tatsächlich einfach. Da kann sich die deutsche Bürokratie ein Beispiel dran nehmen.“ So ist es dem einzelnen doch möglich zu helfen. Keine bloße Geste. Die reale Familie in Ghana, für die die Schriftstellerin das Grundstück kaufte, hat jetzt genügend Land, um davon leben zu können. Genügend Land, das bewirtschaftet werden kann.
Doch der Umgang mit den Flüchtlingen ist keinesfalls eine Einbahnstraße. Es ist Jenny Erpenbeck wichtig zu betonen, wie viel wir von den Menschen, die zu uns kommen, lernen können. „Es ist eine lohnende Sache, den Flüchtlingen zuzuhören“, sagt sie. Aber: „Hier gibt es wenig Interesse für die Dinge, die von dort sind“. Richard, der Wissenschaftler, hört zu und beschäftigt sich mit den alten Kulturen, beispielsweise mit den Tuareg, wie Jenny Erpenbeck an diesem Abend vorliest. Sie sagt: „Es wird selten gesehen, dass Strukturen, die es in afrikanischen Ländern gab, von Europäern zerstört wurden. Es gibt Kulturen, es gibt alte Geschichten, es gibt viel zu entdecken“.
Ja, das gibt es. Am Schluss meint die Autorin: „Je mehr zu uns kommen, desto wichtiger ist es, dass man einzelne kennenlernt. Dafür muss eine Scheu abgebaut werden. Ich hoffe, dass das Buch das macht“.