Vielleicht verlassen viele die Region, weil sie sich hier nicht willkommen fühlen. Wie schätzen Sie die Stimmung in Thüringen ein?
Wir haben keine einfache Situation. Wir haben eine riesige Hilfsbereitschaft der Menschen auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite gibt es auch eine relevante Bevölkerungsgröße, die die Flüchtlinge ablehnt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es sich ein wenig ändert. Wenn früher an einem Ort Flüchtlinge untergebracht werden sollen, gab es viele Menschen, die dagegen protestierten. Heute gibt es zwar immer noch Demonstrationen, aber geht nicht mehr um die Frage, ob Flüchtlinge untergebracht werden sollen, sondern eher darum, wie das organisiert wird.
Nur 2,5 Prozent der Thüringer Bevölkerung sind Ausländer. Wie erklären Sie sich diese Ängste?
Eine Frau erklärte mir neulich wortwörtlich: „Es sind schon 400. Die Stimmung kippt.“ Ich fragte nach: „400 Flüchtlinge?“ - „Nein, Einwohner.“ - „Und wie viele Flüchtlinge?“ - „Noch keiner.“ Es gibt eine Unzahl von Thüringer Dörfern, die bisher nicht betroffen sind. Viele kennen Flüchtlinge nur aus dem Fernsehen. Und da entsteht vielleicht der Eindruck, dass diese Flüchtlinge direkt in das Wohnzimmer der Leute hineinwandern.
Dieser Eindruck wird ja auch von einigen gezielt erzeugt. In Thüringen ja beispielsweise sehr stark von der Alternative für Deutschland.
Die Ängste, die die AfD da schürt, sind schlimm. Rund 30.000 Menschen kommen in diesem Jahr nach Thüringen, seit der Wende haben aber auch 500.000 Menschen Thüringen verlassen.
Aber auch die CDU schürt ja ein wenig mit. Der flüchtlingspolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Christian Herrgott, rechnet vor: Wenn jeder Flüchtling 4-5 Familienangehörige im nächsten Jahr nachziehen lassen kann, dann wären das bei 500.000 Flüchtlingen bundesweit noch einmal zwei Millionen Menschen.
Das ist doch ein Horrorgemälde, das nichts mit der Realität zu tun hat. Zum einen können nicht alle Familienangehörige nachziehen – es kann nur die Kernfamilie kommen. Und zum anderen sind ja nicht alle Flüchtlinge allein reisende Männer, die ihre Familie nachholen wollen. Einige haben ihre Familie bereits dabei, andere haben noch gar keine.
Wie sind denn ihre Schätzungen?
Wir sprechen etwa von 250.000 bis 300.000 Männern. Aber der Familiennachzug ist auch organisatorisch nicht so einfach. Alle Familienangehörigen müssen sich für den Nachzug erst ein Visum besorgen. Da sich sehr viele Familienangehörige momentan in Flüchtlingslagern in der Türkei aufhalten, ist dies nicht so einfach. Der Prozess dauert da jetzt schon sehr lange. Daher wird wohl kein Flüchtling innerhalb eines Jahres seine ganze Familie nachholen können. Das Visum wird das Nadelöhr.
Aber sie wollen den Familiennachzug nicht beschränken?
Wir sind gegen jede Beschränkung. Wer das fordert, hat keine Ahnung von Integration. Wie soll der syrische Vater motiviert sein, hier zu leben, unsere Sprache zu lernen und sich zu integrieren, wenn er alleine bleiben und in ständiger Sorge um seine Familie leben muss. Er wird schlichtweg verzweifeln. Das ist das Modell der Gastarbeiter aus den 70er Jahren. Das ist gescheitert.
„Das wäre ein bürokratischer Aufwand, der nicht gerechtfertigt ist.“
Nochmal zur aktuellen Situation der Flüchtlinge. Sie hatten in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, dass sie eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge in Thüringen einführen wollen, um den bürokratischen Aufwand für Flüchtlinge zu senken. Wie ist da der Stand?
Wir wollen das unbedingt. Es kann nicht sein, dass Verwaltungsbeamte darüber entscheiden, ob jemand krank ist und vom Arzt behandelt wird. Für die Einführung einer solchen Karte müssen wir aber mit den Krankenkassen über den Leistungsumfang verhandeln. Das wollen wir koordiniert mit den anderen Bundesländern machen, da es nicht lohnt, wenn alle 16 Länder Parallelverhandlungen führen.
Ist das nötig? Einige Länder haben das ja auch alleine eingeführt, Bremen oder Nordrhein-Westfalen beispielsweise.
Aber in Nordrheinwestfalen funktioniert es ja auch nicht. Die Landkreise setzen es nicht um, weil sie einen Sogeffekt in den Landkreis mit den größten Gesundheitsleistungen befürchten. Daher wollen wir das einheitlich umsetzen.
Und mit welchem Leistungsumfang? Bisher ist Thüringen ja, laut Thüringer Flüchtlingsrat, eher restriktiv in der Leistungsgewährung.
Es soll einen bundesweiten Rahmenvertrag geben, der aber auch länderspezifische Regelungen ermöglicht. In meinen Augen sollte der Leistungsumfang annähernd oder sogar gleich dem Leistungsspektrum sein, das deutsche Versicherte bei gesetzlichen Krankenkassen bekommen.
Über die Kosten gibt es Streit. Die CDU fordert, dass den Kommunen alle Aufwendungen ersetzt werden sollen, also dass Sie das Geld, dass Sie vom Bund erhalten, direkt weitergeben.
Wir zahlen in Thüringen ja Pauschalen an die Kommunen beispielsweise für die Unterbringung, die soziale Betreuung oder den Wachschutz. Unsere Erstattungsquote liegt recht hoch, bei über 90 Prozent der kommunalen Kosten. Und die meisten Kommunen kommen mit den Pauschalen hin. Da fragen wir uns natürlich: „Warum reicht es bei einigen Kommunen nicht?“ Die Alternative wäre die sogenannte Spitzabrechnung. Da müssten die Kommunen jeden Euro belegen und wir das prüfen. Das wäre ein bürokratischer Aufwand, der nicht gerechtfertigt ist.
Sie senken ja in vielen Bereichen gerade auch den bürokratischen Aufwand. Der Thüringer Flüchtlingsrat kritisiert etwa, dass sich die Standards, die etwa bei der Sozialbetreuung von Flüchtlingen jahrelang erkämpft worden sind, gerade im freien Fall befinden.
Das ist falsch. Die Pauschalen für die Sozialbetreuung werden gerade in zwei Schritten erhöht. Wir beharren auf Standards, aber wir brauchen auch Betreuung. Es sind gerade einfach keine ausgebildeten Sozialarbeiter mit Fremdsprachenkenntnissen mehr zu finden. Daher müssen wir oft auch improvisieren. Warum sollte beispielsweise nicht ein Flüchtling, der die Sprache spricht, und von allen als geeignet beschrieben wird, die Aufgabe der Sozialberatung übernehmen können? Wir haben daher die Richtlinien geändert, um solche Einstellungen zu ermöglichen. Die Frage ist doch: „Hält man auch in herausfordernden Situationen an Standards fest, die für andere Zeiten gedacht sind?“ Das muss ich auch meine eigenen Partei fragen. Wenn wir uns beispielsweise an die Wärmedämmvorschriften gehalten hätten, hätten wir keine einzige Erstaufnahmestelle in Betrieb nehmen können. Die Alternative wären Zelte gewesen, die aber eine noch viel schlechtere Wärmebilanz haben.
"Die CDU will, dass jeder Polizist jeden abgelehnten Asylbewerber zu jeder Zeit abschieben kann" (3/3)
Lesen Sie hier den dritten Teil des Interviews: http://www.boell-thueringen.de/de/2016/02/09/die-cdu-will-dass-jeder-po…