„Russland ist wie ein verrostetes Auto“

Die deutsche Diskussion über Russland ist durch eine starke Polarisierung gekennzeichnet. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass die gegenwärtigen Beziehungen einen historischen Tiefpunkt seit dem Ende der Sowjetunion erreicht haben.



Am Anfang der Diskussion stellte der Moderator, Walter Kaufmann, daher die beiden Positionen vor, die in Deutschland gegenwärtig existieren. Kaufmann ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung für Ost- und Südost-Europa.

Die erste Position sehe die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands kritisch. Dadurch sei Russland in die Defensive gedrängt worden. Die vom Westen geförderte Revolution in der Ukraine sei da nur der letzte Stein des Anstoßes gewesen. Ein Weg aus der Konfrontation führe nun nur über mehr Verständnis für die russische Position und einen neuen Grundlagenvertrag.

Die zweite Position sei deutlich stärker in der Bundesregierung vertreten. Aus dieser Sicht wurde die europäische Friedensordnung durch die Krim-Annexion und die russische Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine zerstört. Es liege nun in russischer Hand, an dieser Situation etwas zu ändern.

Doch wie wird diese deutsche Diskussion in Russland wahrgenommen und stimmt diese Unterscheidung überhaupt  mit der Wirklichkeit in Russland überein?



Die geladenen Gäste sehen die innere Situation in Russland durchweg kritisch. Der Politologe Nikolai Petrov, Leiter des Zentrums für politisch-geographische Forschung in Moskau, erklärte, dass Vladimir Putin in seiner ersten Präsidentschaft noch viele Reformen durchgeführt habe. Dann aber habe sich seine Politik gewandelt und immer mehr auf die Ukraine fokussiert. Putin begann damit, innenpolitische Entwicklungen wie z.B. die nicht mehr steigenden Renten damit zu begründen, dass es den Russen immer noch besser gehe als den Menschen in der Ukraine. Seit 2005 seien daher in seinen Augen keine ernsthaften Reformen mehr unternommen worden. Das Land sehe momentan wie ein verrostetes Auto aus, das sich nicht mehr bewegen könne. Das politische Regime sei unfähig, es zu bewegen.



Dabei werde es für Russland in den nächsten Jahren schwierig: Der Status quo lasse sich nicht mehr halten, da Russland die Ressourcen ausgehen. Zwei Szenarien zeigte Petrov: Die Konfrontation mit dem Westen könnte geringer werden oder die Isolation Russlands zunehmen. Da allerdings der Bereich der Erdölförderung ohne westliche Hilfe nicht aufgebaut werden könne, glaubt Petrov, dass es bald einen russischen Versuch geben werde, die Sanktionen zu mildern und abzuschwächen.

Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu den Sanktionen habe sich auch geändert. Die Isolation beunruhigt laut Umfragen deutlich weniger Russen als noch 2014. Viele Russen machen den Westen dafür verantwortlich, dass es nun beispielsweise keinen Käse mehr in den Geschäften gebe. Dies sei laut Petrov das Ergebnis der „propagandistischen Medienmaschine“: Die Sanktionen würden in der Bevölkerung nicht mehr als Ergebnis der russischen Politik gesehen, sondern als Ergebnis der Politik des Westens.

Die russische Menschenrechtlerin Gulya Sultanova merkte hingegen an, dass sie in der Zivilgesellschaft spüre, dass es kleine und permanente Veränderungen gebe. Sie organisiert in St. Petersburg das „Side by Side“-Festival. Ein Film-Festival, das alternative Geschlechtervorstellungen zeigt und LGBT-Themen ein Forum bietet.

Sie spüre auf ihren Veranstaltungen, dass die russische Propaganda-Maschine, also beispielsweise das Fernsehen, nicht mehr funktioniere und die Menschen nicht mehr überzeugen könne. Sie beobachte, dass das heutige Russland ein bisschen wie die UdSSR in den 80er Jahren sei. Da habe man das „Problem des Sehens und Hörens“ gekannt: Man hörte in der Berichterstattung das Eine und sah aber in seinem Leben das Andere. Selbst die Menschen, die alles glauben, was im Fernsehen berichtet werde, sehen, dass es große Probleme in Russland gebe: Die Krankenhäuser sind in einem schlechten Zustand. Seit den Sanktionen gehe es auch mittelständischen Unternehmen in Russland immer schlechter. Viele Menschen können sich einen Urlaub nicht mehr leisten und verzichten deshalb darauf. Die Stimmung in der Bevölkerung ändere sich. Aber das Einzige, was das Regime dagegen tue, sei es, nur immer wieder neue Ausreden und Schuldige zu präsentieren, wer an dieser Lage in Russland schuld sei.

 

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Aus Sultanovas Sicht basiert Vladimir Putins Erfolg nicht auf der Beendigung des wirtschaftlichen Chaos‘ unter Boris Jelzin und der Begrenzung der Macht der Oligarchen. Viel wichtiger seien die steigenden Ölpreise zu dieser Zeit gewesen, und dass die vorherigen Reformen erst dann zu wirken begonnen hätten. Dennoch habe Putin es geschafft, sich aus diesen Erfolgen das Image eines politischen Managers aufzubauen. Das sei jedoch eine Falle gewesen, dahinter hätten ganz andere Werte als in den westlichen Staaten gestanden – nämlich die Werte des sowjetischen Geheimdiensts KGB.

Putin habe aber auch aus den Fehlern anderer politischer Führer vorher gelernt, erklärte Petrov: Gorbatschow sei beispielsweise in Russland sehr unpopulär gewesen, im Ausland hingegen aber sehr beliebt – daher sei er auch viel gereist. Putin gehe nun den anderen Weg: Er sei im Inland sehr populär und im Ausland unpopulär. Gerade aufgrund seiner Popularität bei der russischen Bevölkerung sei Putins Regime momentan recht stabil. Wenn Putin allerdings morgen weg wäre, gäbe es einen Kampf, in dem jeder gegen jeden kämpfe. Petrov habe Angst, dass sich das nächste Regime nicht lange halten werde und vielleicht auch in eine nationalistische Richtung gehen könnte.

Angesichts der kritischen Einigkeit auf dem Podium wurde aus dem Publikum die Frage gestellt, ob es denn keine Fehler des Westens gegeben habe. Der größte Fehler des Westens sei es, Russland besonders behandeln zu wollen, antwortete Gulya Sultanova. Nur weil es eine schwierige Geschichte gebe, verschließe man in Europa die Augen davor, was in Russland wirklich passiere. Russland sei Teil des Europarats und habe daher der Einhaltung der Menschenrechte zugestimmt. Sultanova vermisse eine starke Reaktion des Westens auf das, was in Russland geschehe. Eine solche Reaktion sei oftmals die einzige Möglichkeit für die Opposition, die Zustände in Russland zu ändern. So sei beispielsweise die Verfolgung von homosexuellen Tschetschenen erst nach internationalen Protesten beendet worden.

Alexey Kozlov, russischer Soziologe und Umweltaktivist, der momentan in Berlin lebt, erklärte auf dem Podium, dass das Schlimmste an der russischen Regierung gerade ihre Respektlosigkeit gegenüber den Rechten der Bürger sei. Man könne ja sicherlich darüber reden, dass in den USA Bürgerrechte gebrochen würden, aber es sei etwas anderes, wenn es in Russland in einigen Regionen normal sei, dass Menschen entführt werden, um Geld zu erpressen, oder dass es normal sei, dass Menschen in Sankt Petersburg und Moskau einfach auf Demonstrationen verhaftet werden.



Durch diese Eigenschaft der Repression bleibe die innere Ordnung, die Putin aufgebaut habe, recht stabil, erklärte Petrov. Es sei zu früh gewesen, zu glauben, dass alles auseinanderbreche. Neben dieser erzwungenen innenpolitischen Stabilität sei auch die außenpolitische Doktrin Russlands in den letzten zwei Wochen klarer geworden: Aus russischer Sicht gebe es wenige Länder mit kompletter Souveränität, wie beispielsweise die USA, Russland, den Iran oder China. Daneben gebe es Länder mit beschränkter Souveränität, wie beispielsweise Deutschland oder andere EU-Staaten, die  viel außenpolitische Souveränität an internationale Organisationen wie die NATO abgegeben haben. Russland sehe sich selbst auch als Staat mit kompletter Souveränität und wolle daher einen Bereich haben, auf den es Einfluss habe und in dem kein anderes Land Einfluss hat. Wichtig sei es in dieser neuen russischen Sicht, dass man sich mit den souveränen Staaten abspreche, da diese wiederum Einfluss auf die Staaten mit beschränkter Souveränität haben: Die USA seien das Land, mit dem man die Politik des Westens besprechen sollte.



Dabei habe Vladimir Putin in seiner Außenpolitik auch vom Westen gelernt. Putin benehme sich so, betonte Petrov, wie der Westen es ihm beigebracht habe. Er habe sich angeschaut, wie der Westen agiere und orientiere sich daran. Beispielsweise konnten die USA in den Irak einmarschieren, ohne dass es große Proteste der westlichen Gemeinschaft gegeben habe. Als russische Truppen 2007 in Georgien einmarschiert sind, habe es enorme Proteste und Sanktionen gegeben. Putin sagt daher laut Petrov: „Ich habe genau das gemacht, was die USA vor fünf Jahren gemacht haben. Warum wird dies nun so anders bewertet?“ Gerade angesichts dieser westlichen Doppelstandards habe es die Propagandamaschine oftmals in Russland sehr einfach: Es würden lediglich die Fehler gezeigt, die der Westen sich erlaubt hat und weiterhin erlaubt.