Sozialministerin Heike Werner führte mit den Worten „Armut ist ein Problem (18,9 % der Menschen in Thüringen sind von Armut bedroht) – und wir müssen hinschauen“ ein. Ob Politik auch handeln müsse, beantwortete sie mit „Ja, Politik muss handeln, aus verschiedenen Gründen.“ Sie nannte das Recht auf Selbstverwirklichung des Einzelnen, zum anderen die Aufgabe des Staates, Diskriminierungen vorzubeugen und Teilhabe zu ermöglichen. Außerdem zeigte sie die vielfältigen Handlungsfelder wie Verteilungsgerechtigkeit, Einkommensarmut, Renten, Regelsätze, Sanktionen bei Hartz IV und prekäre Armut auf. Werner betonte, dass es vor allem um die soziale Integration von Menschen ginge und darum, Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen. Dies reiche von der medizinischen Versorgung über die Mobilität bis hin zum Wohnen unter Berücksichtigung bestimmter Zielgruppen wie zum Beispiel Frauen, Alleinerziehende, Geflüchtete oder Kinder.
18,9 % der Menschen in Thüringen sind von Armut bedroht
Prof. Dr. Michael Klundt (Hochschule Magdeburg-Stendal) belegte den Umgang der Bundespolitik mit dem Thema Armut anhand von Zahlen, Zitaten und wissenschaftlichen Untersuchungen zwischen 2008 und 2014. Er zeigte auf, dass mit der Agenda 2010 und Hartz IV mehr soziale Ungerechtigkeit geschaffen wurden: „Heute haben die unteren 40% der Bevölkerung weniger Einkommen als 1999“. Während das Bruttoinlandsprodukt um 22% gestiegen sei, stiegen die Löhne im Durchschnitt nur um 12%. Zwar gäbe es heute insgesamt mehr Erwerbstätige, allerdings steige gleichzeitig aber auch die Zahl der Erwerbstätigen, die trotz ihrer Beschäftigung in Armut leben. Als Maßnahmen, die zur Armutsprävention nötig seien und aus der Armutsfalle herausführen, nannte er die Besteuerung des Reichtums, eine Erhöhung des Mindestlohnes, eine Kindergrundsicherung, ein Zurückdrängen der prekären Beschäftigung und die Stärkung der Gewerkschaften.
Prof. Dr. Ronald Lutz (FH Erfurt) stellte in seinem Beitrag „Wege aus der Armut - Ein kritischer Blick auf Thüringen“ fest: „Wir reden seit 23 Jahren über Armut. Armut hat in diesem Zeitraum ihren Schrecken verloren, sie wird normalisiert.“ Über Jugendarmut oder Altersarmut rede man kaum. Thüringen gehe dennoch einen interessanten eigenen Weg. Lutz hält vor allem Maßnahmen, die im kommunalen Bereich anfangen, für sehr wichtig, so z.B. TIZIAN. Trotz dessen gab er zu bedenken: „Aber gehen diese Wege nach Auslaufen der Förderung tatsächlich weiter? Kann man mit regionalen Lösungen Armut wirksam bekämpfen?“ Vom Ziel der Armutsbekämpfung sei auch Thüringen noch weit entfernt. Die Kinderarmut in Thüringen seit 2011 sei zwar rückläufig, aber die Armutsquote insgesamt sei noch immer hoch und insbesondere Alleinerziehende, Familien mit mehr Kindern und Rentner*innen seine betroffen.
Als Maßnahmen zur Armutsreduzierung beschreibt Prof. Lutz die Bekämpfung der Ursachen und die gnadenlose Umverteilung von oben nach unten. „Ich bin ein Vertreter der Kindergrundsicherung von 573 Euro pro Monat pro Kind und ein Befürworter des Grundeinkommens.“ Sein Fazit lautet: „Wir brauchen ein Bekenntnis zu mehr Gerechtigkeit. Wir brauchen ein Mehr an Forschung. (Was heißt es, arm zu sein?) Wir brauchen eine öffentliche Debatte. Wir brauchen eine Rückkehr des politischen Willens in die soziale Arbeit.“
„Wir brauchen ein Bekenntnis zu mehr Gerechtigkeit."
Nach den Inputs hatten die Teilnehmer*innen Zeit, an vier Arbeitstischen Erfahrungen auszutauschen, verschiedene Thesen zu diskutieren und Fragen zu sammeln.
Ein kurzes Fazit von den Arbeitstischen gaben im Anschluss die jeweiligen Moderator*innen. Karola Stange (MdL, Die Linke) fasste zum Thema „Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die Armut verhindern können“ zusammen, dass „Beschäftigung“ neu definiert werden müsse und nicht gleichzusetzen sei mit dem Begriff „Arbeit“. Notwendig sei eine öffentlich geförderte Gemeinwohlarbeit, Maßnahmen zur Gesundheitsprävention (Stichwort psychischer Druck bei der Arbeit) genauso wie der Mindestlohn von zwölf Euro. Die Mobilität für Azubis müsse verbessert werden und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gehörten abgeschafft, so Frau Stange.
„Soziale Integration statt Isolation und Ausgrenzung“ sowie „Bildungsgerechtigkeit und Armutsvermeidung“ waren die Themen am Tisch von Tino Gassmann (Bündnis 90/Die Grünen), der folgende Punkte nannte: Integration durch Bildung, Vernetzung und Wirksamkeit („Ist das, was passiert, auch wirksam?“). Zentral sei die Frage, wie man ausgegrenzte Menschen erreichen kann, ohne sie zu stigmatisieren. Eine weitere Forderung war, dass sich Eltern-Kind-Zentren, Kitas und Schulen in den Sozialraum öffnen müssen.
Babett Pfefferlein (MdL, Bündnis 90/Die Grünen), die den Arbeitstisch „Kinder stark machen – Armutskreisläufe durchbrechen“ leitete, fragte: „Was muss sich in der Kita ändern?“ Ein anderer Personalschlüssel werde gebraucht sowie ein Wahlrecht des Kita-Platz. Eltern müssten gestärkt werden, denn dadurch würden auch die Kinder gestärkt. Auch der Beruf der Erzieherin müsse aufgewertet werden und offene Kinder- und Jugendarbeit sollte keine freiwillige Leistung sein, weil in diesem Bereich Planungssicherheit sehr wichtig sei.
Den Thementisch „Kommunale Kompetenzen und Erfahrungen“ moderierte Roswitha Schmeller (Geschäftsführerin von OTEGAU in Gera) Es wurde festgestellt, dass trotz der Projekte wie TIZIAN oder TIZIAN+ Probleme und Hürden bei der Koordination mit den Kommunen gibt. Das fange bei der Frage an: „Welche Maßnahme will ich zur Armutsprävention auf den Weg bringen?“ Es fehle an Geld und Mitarbeiter*innen. Ämter müssten interdisziplinär zusammenarbeiten und Präventionsketten schaffen. Doppelstrukturen seien abzubauen, lokale Verbünde zu bilden und man müsse bedarfsgerecht agieren.
„Wie geht es weiter?“ stellte Moderatorin Blanka Weber die Frage an die Abschlusspodiumsrunde.
Heike Werner begann positiv: „Es gibt ja viele Menschen, die engagiert sind. Das sehen wir heute hier.“
Prof. Dr. Michael Behr (TMASGFF, Abteilung „Arbeit und Qualifizierung“) sagte zum Thema Arbeitslosigkeit: „In Thüringen ist es uns gelungen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Immer mehr Menschen können von ihrer Erwerbstätigkeit leben. Wir haben auch einen Rückgang von SGB-II-Empfänger*innen. Sachsen und Thüringen haben die höchsten Beschäftigungsquoten an sozialversicherungspflichtiger Arbeit.“ Trotzdem bemerkt er, dass Thüringen das Land mit den psychisch belastensten Arbeitszeiten sei und dass eine Entprekarisierung des Arbeitsmarktes notwendig ist.
"Sachsen und Thüringen haben die höchsten Beschäftigungsquoten an sozialversicherungspflichtiger Arbeit.“
Prof. Dr. Michael Klundt antwortete auf die Frage der sozialen Armut: „200 Milliarden Euro werden ungefähr für die Familienförderung ausgegeben. Das oberste Zehntel bekommt aus diesem Topf dreizehn Prozent, das unterste Zehntel sieben Prozent, Förderinstrumente fördern die Wohlhabenden besonders. Das Bildungssystem verstärke die soziale Ungleichheit. Schulen in sozialen Brennpunkten bekommen weniger Geld. Gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung hätten reichere Gemeinden bessere Bedingungen, so Prof. Klundt.“ Prof. Dr. Ronald Lutz ergänzte, dass in Bildungssysteme dort zu investieren sei, wo sich die sozial Benachteiligten aufhielten. Die Vernetzung von Ämtern befürwortete er ausdrücklich.
„Wie können wir Arbeitsplätze schaffen?“ war eine Frage aus dem Publikum. Prof. Behr: „Arbeitsplätze entstehen in der Wirtschaft.“ Dennoch hätten wir viele Menschen ohne die Ermutigungsstrategien wie zum Beispiel durch TIZIAN nicht in Beschäftigung gebracht. Er zeigte sich optimistisch, da seit Rot-Rot-Grün ist die Langzeitarbeitslosigkeit um 25% zurückgegangen ist.
Prof. Lutz stellte Michael Behr die Frage, was er der zunehmenden Digitalisierung, in deren Folge bis zu 40% der Arbeitsplätze wegfielen, entgegensetzen wolle. „Wir sind auch Nutznießer der Digitalisierung. Wir können endlich mit zwei Tabus auf dem Arbeitsmarkt brechen: Erstens: Bloß keine Ausländer*innen und zweitens: bloß keine Investitionen, die Arbeitsplätze ersetzen.“, entgegnete Prof. Behr.
Im Ergebnis wurde während des Fachforums reichlich Wissen ausgetauscht und über zahlreiche Maßnahmen informiert, die bereits getroffen wurden oder dringend anstehen. Es wurde aber auch deutlich, dass Thüringen allein die Armut nicht bekämpfen kann. Das erfordert einen politischen Willen und konkrete Maßnahmen der Bundespolitik.