von Carmen Fiedler
Allmählich füllt sich der hintere Raum im Erfurter Café Nerly an diesem 28. März 2019. Es ist Kaffeezeit, draußen kündigt sich der Frühling an. Über 30 Frauen und Männer aus verschiedensten Ecken des Freistaats sind gekommen, um sich hier über frühkindliche Bildung in Thüringen auszutauschen. Über das, was gut, und über das, was weniger gut läuft. Sie wollen über Probleme reden, über verschiedene Herangehensweisen an die Arbeit in den Kindertagesstätten und über die Unterschiede in den Einrichtungen, die oftmals schon innerhalb einer Stadt bestehen. Und sie wollen die Rahmenbedingungen diskutieren, die die Arbeit in den Kitas so häufig erschweren. Am Ende soll daraus eine Art Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes in den Thüringer Kindertagesstätten resultieren. Zusätzliches, aber ausdrücklich gewünschtes Ziel ist zudem eine beginnende Vernetzung der Kindertagesstätten untereinander. Gemeinsam ist man stärker.
Über die Bedeutung der frühkindlichen Bildung – rund 1400 Kindertagesstätten gibt es in Thüringen – muss in diesem Rahmen kaum diskutiert werden, im Gegenteil. So meint Anke Mamat vom Kolleg des QuerWege.: „Wir haben ausgesprochenes Interesse daran, dass die frühkindliche Bildung in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses gerückt wird“.
Es ist ein Auftakt, der durch die Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V., den Kolleg des QuerWege aus Jena und den Paritätischen Wohlfahrtsverband initiiert wurde. „Wir hoffen auf einen längeren Prozess zu guter Kita in Thüringen“, sagt denn auch Solveig Negelen von der Heinrich-Böll-Stiftung. Weitere Veranstaltungen und Debatten sind bereits geplant.
Im Vorfeld dieses Nachmittages verschickten die Veranstalter*innen Fragebögen an Kindertagesstätten in Thüringen. Aus den 33 beantworteten Fragebögen werden durchaus Widersprüche ersichtlich. So gab fast die Hälfte der Befragten an, mit der Arbeitssituation allgemein zufrieden zu sein, andererseits waren jedoch mehr als 50% mit den Bedingungen zur Förderung kindlicher Bildungs- und Entwicklungsprozesse sowie der Organisations- und Personalentwicklung und der Mitarbeitergesundheit unzufrieden, ebenso wie mit der Möglichkeit zur Mitgestaltung dieser Prozesse (siehe Grafiken).
Die heutigen Gäste, der Frauenanteil überwiegt, die meisten der Anwesenden sind Kita-Leiter*innen, finden sich in einem World-Café zusammen, in dem sie sich an drei Thementischen, deren Teilnehmer*innen alle 15 Minuten den Tisch wechseln, austauschen. Sie diskutieren lebhaft Ideen, Anmerkungen, Sichtweisen, Erfahrungen und Fragen.
Beispielsweise am Tisch mit dem Fokus Kind. Hier stellt Andrea Burchardt, Kitaleiterin aus Jena, Fragen: „Was können wir tun, um den Kindern die Möglichkeiten zu bieten, die sie brauchen, um sich gut entwickeln zu können?“ und: „Was brauchen wir, damit sich Kinder auch im Jahr 2021 in unseren Kitas wohlfühlen?“. Die Antworten: Kinder brauchen Platz und Zeit. Kinder brauchen stabile Teams und deshalb starke Mitarbeiter*innen mit guter Ausbildung. Kinder brauchen die Rückbesinnung auf wirklich wichtige Dinge und eine Sensibilisierung für die Natürlichkeit des Lebens. Kinder brauchen Chancen, auch Chancen für Integration und Inklusion. Die Kita sollte ein Ort für elementare Bildungs- und Bindungserfahrungen, fürs Spielen und Leben sein.
Nicht überraschend ist folgende Erkenntnis: „Zeit ist der große Faktor, der über allem steht“, so Andrea Burchardt. Stark diskutiert werden hier die vielen Tätigkeiten, die in Kitas anfallen: „Wenn ich überlege, was die Kollegen alles nebenbei machen müssen: Zusammenarbeit mit den Behörden, den Eltern, die Wäsche, hausmeisterliche Tätigkeiten, Essensvorbereitung, Dienstberatungen und und und“, meint eine Kitaleiterin. Dies alles sind Arbeiten, die nicht von der pädagogischen Zeit abgezogen werden dürfen, aber oft genug abgezogen werden müssen.
Der Tisch zu den Themen „Leitung / Team / pädagogische Fachkräfte“ wird von Jana Kaps, Leiterin im Bereich Familie vom Saalebetreuungswerk aus Jena, begleitet. Auch hier tauscht man sich rege aus: „Wie ist es bei uns, wie ist es bei euch?“, und gibt sich gegenseitig Tipps und Ratschläge, die gerne aufgegriffen werden. Stichworte sind: Stress, Personalschlüssel, Coaching, Supervision, kürzere Amtswege bei Einstellungen und Vertretungen, Vernetzung. Ein besonderes Anliegen ist es, Standards zu setzen, z.B. für Zeiten für Dienstberatungen, Fortbildungstage und für eine bessere Personalausstattung. Teilweise gibt es 30 – 40% Ausfallzeiten in den Kitas, und dadurch noch weniger Fachkräfte, die noch mehr Kinder allein betreuen. Eine Kitaleiterin merkt an: „Zum Schluss sitzen wir alle in der gleichen Suppe und haben alle die gleichen Probleme. Und es verändert sich nicht; das ist ja das Schlimme“. Die Zufriedenheit im Team spiele eine große Rolle. Und auch hier steht der Faktor Zeit im Mittelpunkt. Zeit, um ein Gespür für die Bedürfnisse des einzelnen Kindes zu entwickeln mit der Möglichkeit zu agieren und nicht nur zu reagieren.
Am dritten Tisch, den Elke Lorenz, Fachberaterin für Kitas bei einem Freien Träger in Jena, begleitet, geht es um das Thema „Familie“: Was erwarten und wünschen sich Familien von uns? Was können wir leisten? Was geben wir nach außen? Was erwarten wir von den Familien? Wo liegen unsere Grenzen? Solche und ähnliche Fragen werden hier besprochen. Raimund Schröter vom Paritätischen Wohlfahrtsverband betont dazu: „Wir dürfen nicht vergessen: Die Eltern sind eine starke Kraft. Transparenz und Beteiligung der Eltern verhindert auch eine Beschwerde im Nachgang“. Ein Kitaleiter merkt an: „Elternarbeit ist sehr wichtig. Schade, dass sie in den Rahmenbedingungen so wenig wertgeschätzt wird“. Man sei gezwungen, immer zwischen Tür und Angel mit den Eltern zu reden, denn diese Zeit wird nicht bezahlt und so auch nicht wertgeschätzt. Doch „Wertschätzung ist der Dreh- und Angelpunkt“, so der Kitaleiter. Das impliziert auch Fragen wie: Wie gehen wir selbst mit uns in unseren Teams um? Und: Welchen Mut haben wir, Eltern mitzunehmen? Denn Eltern sind durchaus eine Ressource. „Wir müssen schauen, wo die Eltern uns unterstützen können, nicht nur fordern, wir brauchen dies und das“, meint eine Teilnehmerin. Die Frage dabei sei: „Wie bauen Familien Vertrauen zu uns auf?“. Elke Lorenz wies noch auf einen anderen Punkt hin: „Ganz oft passiert von unserer Seite das Belehrende. Ich finde es sehr gefährlich, was da teilweise geschieht. Wer sagt denn, dass nur unser pädagogischer Ansatz der richtige ist?“. Zeit und Raum fehlen auch hier.
Am Ende der 45 Minuten im World-Café, manche haben noch eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser in der Hand, fasst Reimund Schröter dieses Treffens so zusammen: „Letzten Endes kann nichts voneinander losgelöst betrachtet werden. Alle Dinge gehören zusammen.“ Und Anke Mamat fügt hinzu: „Das war der Beginn eines Prozesses, der die Bedeutung der frühkindlichen Bildung und Entwicklung hervorhebt und die Qualitätsentwicklung voranbringen will. Aus den Ergebnissen dieses ersten Treffens entwickeln wir als Initiator*innen Angebote für die Praxis zum Mitdenken und Überdenken. Mit den vielen engagierten Beteiligten entstehen dann weitere bedarfsgerechte Angebote für ein Selbstbewusstsein, das dieser Beruf verdient“.
Dies leitet direkt zur nächsten Veranstaltung zum Thema „Frühkindliche Bildung in Thüringen“ über, die am 22. Mai mit Vertreter*innen der Ausbildungsstätten stattfindet. Die dritte Veranstaltung, ein Fachtag zum Thema ist im September geplant.
Am frühen Abend des 28. März aber verabschieden sich die Teilnehmer*innen sichtlich beflügelt voneinander, frische Ideen, andere Wege und neue Kontakte im Kopf.