Auf dem Irrweg – Die Suche nach Orientierung

Kanzelrede

Bei seiner aufrüttelnden Rede zeichnete der Autor und Selbstversorger Ernst Paul Dörfler immer auch ein positives und hoffnungsvolles Bild, das untersetzt ist mit dem Beispiel des eigenen Lebensstils. Nachfolgend können Sie die vollständige Rede lesen.

Lesedauer: 11 Minuten

Liebe Gemeinde,



es ist mir eine Ehre, an diesem historischen Ort eine Rede halten zu dürfen. Ich habe hier ganz in der Nähe die Zeiten meiner Kindheit und Jugend verbracht. Von dieser Kanzel aus hat vor 500 Jahren Martin Luther für die Reformation gestritten. Heute geht es um eine andere, nicht minder große Herausforderung, vor der wir stehen: Es geht um eine tiefgreifende Transformation unserer Gesellschaft.

Wir erleben gerade eine historische Dürreperiode. Laut EU-Kommission scheint die aktuelle Dürre die wahrscheinlich schlimmste seit mindestens 500 Jahren zu sein. Im Jahr 1540 gab es auch eine beklagenswerte Dürre - da war Martin Luther 57 - aber sie währte wohl nur ein Jahr und lag mitten in der kleinen Eiszeit. Die Wetterextreme heute brechen Allzeit-Rekorde. Allein in diesem Sommer wurden über 3000 Todesfälle durch Hitze in Deutschland gezählt. Noch viel leidvoller ergeht es den Menschen in Afrika und in Südasien bei Temperaturen um bis zu 50 Grad Celsius. Im globalen Süden haben 800 Millionen Menschen nicht das Nötigste zum Essen, viele sind auf der Flucht, wenn sie dazu noch die Kraft aufbringen.

Wer will diese Hiobsbotschaften noch hören? Ein Drittel der Deutschen schalten inzwischen bei derartigen Meldungen ab. Sie wollen es nicht mehr wissen, wie es um uns steht, sie wollen am liebsten so weitermachen wie bisher - alles das weiterhin tun, was diese Krise hervorgerufen hat.

Es war doch so schön bequem, unser Leben als Verbraucher im Industrie-Schlaraffenland. Wir haben verbraucht, was wir bezahlen konnten, und möglichst billig sollte es auch sein. Für Lebensmittel haben wir in den fünfziger Jahren noch die Hälfte, also 50 % unseres Einkommens ausgegeben. Heute sind es im Durchschnitt nur noch 10 %. In anderen europäischen Ländern zahlen die Menschen doppelt so viel für ihr täglich Brot - 20% ihres Einkommens.

Wir klagen über Preissteigerungen, während ein Drittel unserer Nahrungsmittel in der Tonne landet und über die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig gilt.

Sind unsere Nahrungsmittel noch nicht teuer genug, um endlich wieder wertgeschätzt zu werden? Alle zwei Stunden stirbt in Deutschland ein Bauernhof, weil das Geld, das er für seine Erzeugnisse erhält, nicht mehr zum Überleben reicht.

Martin Luther schaute gerne „dem Volk aufs Maul“, um herauszubekommen, was es denkt, fühlt, ängstigt. Heute sind es zu viele Mäuler, stattdessen kann man sich auf repräsentative Meinungsumfragen renommierter Institute stützen.

Am meisten sorgen sich die Deutschen derzeit um steigende Preise und um die Inflation, um die Geldentwertung. Wagen wir eine Analyse. Wenn wir schon damit keine Bauernhöfe am Leben erhalten, was machen wir eigentlich mit unserem Geld, was uns so lieb und teuer ist?  

Nach amtlicher Statistik geben wir einen Großteil für die Wohnkosten aus, gefolgt von Auto, Freizeit und Unterhaltung. Das ist die Rangfolge dessen, was uns offenbar wichtig ist. Wohnen muss man ja, Mobilsein auch.

Aber ist es in diesem Umfang notwendig? Im letzten halben Jahrhundert hat sich die Wohnfläche pro Kopf verdoppelt, der Verbrauch an Heizenergie und Warmwasser vervielfacht, ebenso die Zahl der Autos. Wenn alle Menschen auf der Welt auf so großem Fuß leben würden wie wir in Deutschland, dann bräuchte es zwei bis drei Erden.

Realität ist aber auch, dass 15% der Einwohner Deutschlands als arm oder armutsgefährdet gelten, nicht nur Rentnerinnen, auch viele Eltern und Kinder. So eine klaffende Einkommensschere ist eine Schande für ein reiches Land. Von einer sozial-gerechten Gesellschaft haben wir uns immer weiter entfernt.

Von einer zukunftstauglichen Wirtschaftsweise ebenso. In der Bundesrepublik Deutschland werden nach amtlichen Angaben bislang Jahr für Jahr 66 Milliarden Euro für umwelt- und klimaschädliche Subventionen ausgegeben. Ein Beispiel: Wer sich einen Porsche als Dienstwagen zulegt, kann mit 140 000 Euro an staatlichen Zuschüssen rechnen. Das nennt sich Dienstwagenprivileg.

Gegen solche Absurditäten müssen wir als Zivilgesellschaft aufbegehren. Hier steht die Politik in der Verantwortung, für Gerechtigkeit und gleichzeitig für Klimaschutz zu sorgen.

Ja, wir haben uns schlichtweg verlaufen, geirrt und verirrt. Mit einem „Weiter so“ nähern wir uns einem Abgrund, dessen Tiefe wir uns kaum vorstellen können.

Man muss nur die Augen aufmachen. Unsere Wälder leiden, sie dürsten, sie sterben ab und sie stehen immer öfter in Flammen. Flüsse werden zu Rinnsalen, die Fische ringen um ihr Überleben. Dennoch können wir uns nicht sicher sein, wann die nächste Flut kommt. Auf den Feldern vertrocknen die Sonnenblumen, noch ehe sie blühen. In meinem Garten muss ich jede Pflanze einzeln gießen. Doch mein Brunnen fällt immer öfter trocken. Und um mich herum erlebe ich das größte Massenaussterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren. Uralte Wälder in den Tropen werden für Rindfleisch auf unseren Tellern ausradiert. Aber auch aus unserer Kulturlandschaft, von unseren Feldern und Wiesen, sind bis zu 90% der Vögel verschwunden.

Die Verzweiflung, von der Teile der jungen Generation erfasst sind, kann ich gut verstehen. Wir befinden uns mitten in einer Kaskade von Krisen. Seit über 50 Jahren wissen wir von der drohenden Klimakrise und vom rasanten Aussterben der Arten, der Naturkrise. Doch erst mit den Hitze-Sommern, der Pandemie und dem Ukraine-Krieg vor der Haustür werden unsere Abhängigkeiten, unsere Verletzlichkeit für jeden spürbar: Energiekrise, globale Nahrungskrise, Wassernotstand.

Wir glaubten, mit der freien Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt unseren Wohlstand sichern zu können. Wir glaubten, dass wir nur ausreichend billigen Nachschub an Energie, Rohstoffen und Fachkräften brauchten, um uns auf Ewig versorgen zu lassen. Wir haben uns blenden lassen von der bunten Welt der Werbung und dachten vor allem ans schnelle Anschaffen und Wegwerfen. Wir glaubten, die große Freiheit gewonnen zu haben, aber Geldsorgen beherrschen unser Leben. Wollen wir wirklich so bedauernswert sein, Sklaven des Geldes?

Schuld an den Krisen sind diesmal nicht die anderen, wir sind es selbst. Wir waren leichtsinnig, haben uns verführen lassen, wurden zu Schnäppchenjägern und haben nicht an die Zukunft gedacht. Eine Erkenntnis, die uns schwerfällt, sie einzugestehen.

Doch in dieser schmerzhaften Erkenntnis steckt auch eine große Chance. Wenn wir selbst die Probleme geschaffen haben, könnten wir sie nicht auch selbst aus eigener Kraft lösen?

Es ist an der Zeit, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu besinnen, auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Auf den Mutterboden, den wir mit Füßen treten und mit Gift behandeln. Auf die Luft, das Wasser, die Pflanzen, Tiere und Lebensräume, ohne die wir nicht leben können. Sie sind das Wichtigste von allem, unser wahres Vermögen, Gold wert, wenn man so will - unser Stammkapital.

Fürsorge ist angesagt, Fürsorge für die Natur. Fürsorge wird zum Hauptinhalt unseres Lebens werden müssen.

Unsere Wertmaßstäbe werden sich ändern müssen. Nicht der Reichtum an privatem Besitz, sondern der Reichtum an Gemeinwohl, an echtem Wohlergehen der ganzen Gesellschaft sollen erstrebenswert und lohnenswert sein und zugleich öffentliche Anerkennung verdienen. Ein wahrhaft christliches Ziel. Jesus hat es uns vorgelebt.

Aber Jesus wurde auch niemals mit einem heulenden Kind konfrontiert, das nach einem Überraschungs-Ei oder schicken Marken-Turnschuhen verlangte. Er musste sich nie überlegen, ob es sich wirklich lohnt, tagelang mit dem Esel in der Wüste unterwegs zu sein, wo Jerusalem doch in einer Stunde für 19 Euro mit dem Billigflieger erreichbar ist.

Die Werte, die Jesus verkörperte, haben bleibenden Bestand. Es liegt an uns, sie in alltagstaugliche Handlungen umzusetzen.

Mit meinem Buch "Aufs Land" versuche ich, Wege aufzuzeigen, wie wir hier und jetzt aus dem Krisenmodus herausfinden können. Ich stütze mich dabei auf Arbeiten des Umweltbundesamtes in Dessau, das ermittelt hat, wofür wir Energie verbrauchen und damit das Klima anheizen. Da sind bekanntlich der Stromverbrauch, die Heizung, das Warmwasser und die Mobilität. In allen Bereichen können wir ohne viel Aufwand Energie und damit Geld sparen. Alle kennen die Spar-Tipps. Ein paar Grad weniger, ein paar Minuten kürzer, ein paar Kilometer mit dem Fahrrad.

Der große Batzen aber, für den wir mehr als die Hälfte unseres Energieverbrauchs aufwenden, sind die Konsumgüter.

Alles was wir kaufen, muss hergestellt werden. Rohstoffe sind zu fördern, zu transportieren, zu verarbeiten. Produkte müssen verpackt, gelagert, gekühlt, transportiert, beworben, verkauft, entsorgt werden. Das alles kostet Energie, kostet Klima, kostet Natur, kostet menschliche Lebenszeit.

Die wahren Kosten finden sich jedoch nicht auf dem Preisschild. Die ablesbaren Preise täuschen. Die menschliche Arbeit im globalen Süden ist billig, Natur und Klima geschenkt. Unsere Atmosphäre wird immer noch als kostenlose Mülldeponie für alle möglichen Abgase missbraucht. Es werden Tiere in Ställen gequält und Kinder auf Kaffeeplantagen ausgebeutet. So geht billig. Billig ist eben alles andere als günstig, eher ungünstig. Es wirkt fast so, als wenn nur die rasant ansteigenden Energiepreise es schaffen konnten, uns wachzurütteln. Wieder unser geliebtes Geld. Gesichert ist: Die nächste Rechnung fällt um ein Vielfaches höher aus, als wir hätten zahlen müssen, um all die angerichteten Schäden und Abhängigkeiten im Vorfeld zu vermeiden. Aber Jammern und Klagen helfen nicht weiter. Was können wir tun?

Das Wichtigste und das Wirksamste ist zugleich das Einfachste: Es heißt Reduktion. Reduktion unseres Verbrauchs, unseres überflüssigen, vermeidbaren Konsums, unserer Verschwendung.

Dafür braucht es keine Gesetzgebungsverfahren. Wir können noch heute damit beginnen. Was leisten wir uns nicht alles? Der deutsche Durchschnittsbürger leistet sich jede Woche ein neues Kleidungsstück, welches er nach statistischen Erhebungen ganze viermal trägt. Muss es wirklich immer das neueste Handy sein, der neueste Fernseher, die neueste Kaffeemaschine?

Ich erinnere mich noch, wie mein Vater mir beigebracht hat, krumme, rostige Nägel mit dem Hammer gerade zu klopfen, um damit den Gartenzaun zu reparieren. Nägel waren knapp und teuer. Es war einst alltägliche Praxis, das Verwenden von Dingen bis zur völligen Unbrauchbarkeit. Immerhin: Das Recht auf Reparatur ist derzeit als Gesetz in Vorbereitung. Das ist eine erfreuliche Nachricht.

Reduzieren muss nicht bedeuten, einen schmerzlichen Verlust zu erleiden. Weglassen, sich nicht mit Ballast zuschütten, kann auch Gewinn bedeuten. „Gut leben statt viel haben“ – so kann man es auf den Punkt bringen. Ich praktiziere das Prinzip seit Jahrzehnten und bin mit dieser Strategie sehr glücklich geworden. Meine Erkenntnis: Verzichte ich auf Überflüssiges und Unnötiges, dann gewinne ich an Zeit, an Leichtigkeit, an Lebensfreude, nicht zuletzt auch an Gesundheit. Ich brauche weniger Geld, darf meine Erwerbsarbeit reduzieren.

Durch überwiegende Selbstversorgung verliert die Inflation ihren Schrecken. Meine Mutter hat in ihrem Leben zweimal eine Inflation erlebt. Eine schockierende Erfahrung, die ein Mensch nie vergisst. Von ihr stammt aber auch der Satz: „Gehungert haben wir nie“. Auf dem Dorf lebend wussten die Menschen damals noch recht gut, auch ohne Geld sich selbst zu helfen.

In der heutigen Zeit gewinne ich durch die Reduzierung des Konsums an Freiheitsgraden, um mich mit jenen Fragen und Tätigkeiten zu befassen, die mir wirklich wichtig sind. Es sind die großen Herausforderungen unserer Zeit, die anzupacken sind.

Schon höre ich den Einwand: Wir können doch nicht alle Probleme auf den Einzelnen abwälzen. Das wäre doch eine Überforderung. Da muss doch die Politik etwas tun und die Wirtschaft genauso. Richtig. Die Wirtschaft muss in die Pflicht genommen werden. Sie muss unsere Lebensgrundlagen - Klima, Natur und Gesundheit - schonen, schützen und sichern. Die Rahmenbedingungen dafür zu setzen ist Aufgabe der Politik. Dazu gehören auch strikte Verbote. Die Freiheit der Märkte muss dort aufhören, wo sie unsere Lebensgrundlagen zerstört.

Die Wirtschaft produziert aber auch nur das, wofür bereit sind, unser Geld herzugeben. Wir sind also keineswegs machtlos. Gefragt ist der kritische, der mündige Konsument, der seine Sinne nicht durch schrille Werbung vernebeln lässt und bewusst mit kühlem Kopf entscheidet, was er tut und was er links liegen lässt. Auch hierbei kann und muss die Politik unterstützen. Zigaretten werden nur noch mit Warnhinweis beworben: „Rauchen ist tödlich.“ Endlich, nach über 50 Jahren des Wissens um die Krebsrisiken. Warum sollte Werbung für klima- und umweltschädliche Produkte nicht auch mit einem ähnlichen Hinweis versehen werden?

Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. Nach der Faktenlage stehen wir nicht am Ende, sondern eher am Anfang von tiefgreifenden Wandlungen.

Lange Zeit glaubten wir fest daran, dass es unseren Kindern besser gehen wird als ihren Eltern. Es schien eine Art Gesetz zu sein. Doch was meinten wir mit diesem „Besser gehen“?  Sollten sie es bequemer haben, sich noch mehr kaufen können, keine Geldsorgen mehr haben? Für diese Art von Wohlstand galt das grenzenlose wirtschaftliche Wachstum als Bedingung.

Dieses materielle Wachstum ist ausgereizt. Wir haben es überzogen und stecken in einer bedrohlichen Kalamität. Nun werden wir „Wohlstand“ neu definieren müssen. Darüber gilt es, ab sofort gemeinsam nachzudenken und die nötigen Debatten zu führen, an jedem Tag, an jedem Ort.

Liebe Gemeinde, wenn meine Kanzelrede dazu einen Anstoß gegeben hat, hat sie ihren Zweck erfüllt.

Ich wünsche bei allen Problemen, die es zu lösen gilt, jedem Menschen den nötigen Mut, die nötige Tatkraft und vor allem Zuversicht.

Zuversicht, das ist der Vogel, der das Licht spürt und singt, wenn es am Morgen noch dunkel ist.

 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.slu-boell.de