Entwicklungspfade für mehr Beteiligung
„Wir sitzen noch immer auf einem Fragezeichen“, erklärt Ernst-Ulrich Reich. Er ist Leiter des Steuerungsdienstes in Berlin-Lichtenberg und damit verantwortlich für die Umsetzung eines der größten Bürgerhaushalte in Deutschland. Auch nach der Modernisierung dieses Bürgerhaushaltes und der Anpassung an die Bedürfnisse der jüngeren Generation stellt sich für Reich die Frage: „Wie kriegt man die Jüngeren zum Thema Bürgerhaushalt?“ Berlin-Lichtenberg ist dabei seit Jahren das Vorzeigeprojekt für viele Bürgerhaushalte in deutschen Kommunen.
In Lichtenberg wurde im Jahr 2005 der erste Bürgerhaushalt in einer Großstadt eingerichtet. Dies geschah im Rahmen eines Pilotprojekts gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Urteil vieler Wissenschaftler sollte überprüft werden, ob Bürgerhaushalte sich als Mittel der Bürgerbeteiligung nicht nur für kleine Kommunen eignen. Die Erfolgsgeschichte des Bürgerhaushalts im Berliner Stadtteil Lichtenberg mit seinen etwa 260.000 Einwohnern widerlegte dies.
Der Bürgerhaushalt bestand aus einem sogenannten Vorschlagswesen. Auf Stadtteilversammlungen und über eine eigene Internetplattform konnten die Lichtenberger eigene Vorschläge einbringen und diskutieren, die dann im Internet bewertet wurden. Die Top-Vorschläge wurden dann jährlich in die Haushaltsplanung der Bezirksverordnetenversammlung übernommen. Die Beteiligungszahlen im Internet stiegen von Jahr zu Jahr. Irgendwann ging es allerdings, so sagt Reich heute,nur noch um „Höher, schneller, weiter“. Es sollte eine Beteiligung von 10.000 Bürgern erreicht werden – und das mit allen Mitteln. Man stellte sich vor Supermärkte und erreichte auf diese Weise letztendlich auch die magische Zahl der 10.000 Teilnehmer. Damit wurde allerdings die Idee vergessen, betont Reich, Bürger für die kommunale Politik zu gewinnen, die sich bisher nicht beteiligt hatten: „Die Zahl der Beteiligung sagt nicht unbedingt etwas über die Qualität der Beteiligung aus.“
Aus diesem Grund, aber auch durch einen Wechsel des Bürgermeisters, wurde das Konzept des Lichtenberger Bürgerhaushaltes noch einmal von Grund auf überarbeitet.In den erneuerten Internetauftritt wurden soziale Medien stärker integriert. Eine Erkenntnis der Neuausrichtung war, dass man jüngere Menschen viel zu selten erreiche. Die Wahrnehmung des Bürgerhaushalts durch die jüngere Generation sei, so erklärt Reich, dass das alles viel zu lange dauere. Und in der Tat dauerte es in Lichtenberg – aber auch in anderen Städten – vom Vorschlagbis zur Umsetzung im Haushalt fast zwei Jahre. Das wurde nun geändert: Vorschläge können jederzeit eingereicht werden und sollen viermal jährlich von einer Kommissionmit den Vorschlagenden diskutiert werden. Diese Kommission setzt sich aus ehrenamtlichen Teilnehmern, Verwaltung und Politik zusammen. Dieses Konzept stieß allerdings auch schnell an Kapazitätsgrenzen: Seit Februar gab es in Lichtenberg 256 Vorschläge. Da die Diskussion eines Vorschlags allerdings etwa eine halbe Stunde dauert, musste die Kommission nahezu wöchentlich tagen. Es erschienen jedoch auch nur 10-15 Prozent der Vorschlagenden zur Diskussion ihrer Vorschläge.
Viele Anliegen konnten auch vorab geklärt werden, da sie nicht in den Entscheidungsbereich des Bürgerhaushalts gehörten. Daran habe man auch eine andere Entwicklung festgestellt, erklärt Reich, die häufig bei der Beteiligung an Bürgerhaushalten eine Rolle spiele: Es gehe um ein Anliegenmanagement. Die Bürger wollen der Verwaltung ihre Anliegen und Beschwerden mitteilen. Das habe man an den Vorschlägen gesehen, die zur Bearbeitung eingereicht wurden: Es ging um Hundekot, der noch nicht beseitigt wurde, und um das Schlagloch, das durch den Winter entstanden ist. Bei der Behandlung dieser Anliegen hatte Lichtenberg das Glück, dass in den Jahren zuvor eine Plattform aufgebaut worden war, die sich um solche Anliegen kümmert: Das Maerker-Portal. Dort können Beschwerden von den Bürgern direkt an die Verwaltung kommuniziert werden. Eine Ampel verdeutlicht den Bürgern den Bearbeitungsstand ihres Anliegens: Rot bedeutet, dass es eingegangen ist, gelb heißt, dass es bearbeitet wird, und grün zeigt, dass es gelöst wurde. Möglichst innerhalb von 14 Tagen soll der Bürger auf diese Weise eine Antwort auf sein Anliegen erhalten. In Lichtenberg werden nun alle Anliegen, die nichts mit dem Bürgerhaushalt zu tun haben, direkt an diese Plattform weitervermittelt.
Diese Kombination eines Bürgerhaushaltes mit einem modernen Anliegenmanagement ist jedoch nur eine Möglichkeit der Weiterentwicklung der Idee des Bürgerhaushalts. Professor Helmut Klages von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften will die Bürgerbeteiligung in Deutschland grundlegend ausbauen. Die Idee ist es, eine höhere Bürgerbeteiligung in Kommunen und Städten durch die Verabschiedung von Beteiligungs-Leitlinien zu erreichen. Gemeinsam mit der Stadt Heidelberg entwickelte er in den letzten Jahren solche Leitlinien.
In Heidelberg erstellt die Verwaltung im Zuge dieser Leitlinien eine „Vorhabenliste“, in der alles steht, was die Verwaltung in den nächsten Jahren plant. Explizit muss die Verwaltung hinzufügen, ob und in welcher Form sie den Bürger beteiligen will. Der Bürger wird dann im Zuge der Umsetzung des Vorhabens nicht nur einmal einbezogen, sondern durch einen projektbezogenen Koordinationsbeirat in allen Phasen der Umsetzung beteiligt. Es komme zu einem trialogischen Verfahren: Die Politik, die Verwaltung und die Bürger treten in regelmäßigen Austausch. Auf diese Weise werde Bürgerbeteiligung, betont Klages, zu einem „Prozess“ und bleibe nicht, wie beim Bürgerhaushalt, eine „punktuelle Meinungs- oder Wunschäußerung“.
Allerdings will Klages den Bürgerhaushalt nicht gegen die Leitlinien ausspielen. In seinen Untersuchungen hat er allerdings festgestellt, dass beide Konzepte bisher nicht gemeinsam auftreten: In vielen Kommunen in Baden-Württemberg werde seit einigen Jahren stark auf die Entwicklung von Leitlinien gesetzt, während in Kommunen, die schon länger Bürgerhaushalte eingeführt haben, nicht über die Entwicklung von Leitlinien nachgedacht werde. „Wir können mit dieser Parallelentwicklung nicht zufrieden sein – wir brauchen eine Synthese aus beiden Ansätzen“, fordert Klages. Die bisherige Ausrichtung der Beteiligungskultur auf die Finanzplanung brauche eine Ergänzung auf der Ebene der Sachplanung. Dabei könne gerade der Bürgerhaushalt eine wichtige Rolle spielen: Er könnte für eine Bürgerbeteiligung auf dieser Ebene ein „Türöffner“ sein. Gerade durch seine Offenheit für alle Bürger und seine etablierte, institutionelle Verankerung eigne sich der Bürgerhaushalt, um diese neue Form der Bürgerbeteiligung einzuführen. Das funktioniere allerdings nur, wenn der Bürgerhaushalt in den Kommunen fest etabliert sei.
Das ist jedoch ein Problem.Denn die Realität in den meisten Thüringer Kommunen sieht anders aus. Das offenbarte sich auf der Tagung. Der finanzielle Druck in vielen Thüringer Kommunen führt dazu, dass die Beteiligung durch Bürgerhaushalte kaum noch stattfinden kann oder nur noch, wenn die Bürger über eine Sparliste abstimmen sollen. So zum Beispiel in Gera. Nach langen Bemühungen gründete sich im letzten Jahr eine Arbeitsgemeinschaft zur Etablierung eines Bürgerhaushalts. Seit diesem Jahr steht die Stadt jedoch kurz vor der Pleite. Daher begann die AG mit einem Fragebogen zum Sparen und konnte immerhin einen Rücklauf von fast 1400 Bürgern erreichen. Ähnlich sieht es seit Jahren in Eisenach aus. Seit 2009 konnte die Stadt keinen genehmigungsfähigen Haushalt mehr aufstellen. Dementsprechend konzentrierte sich der bereits 2006 eingeführte Bürgerhaushalt nur auf Möglichkeiten zur Konsolidierung und stieß insgesamt auf wenig Interesse bei den Bürgern. In Erfurt gab es in den Jahren 2011 und 2012 ebenfalls Haushaltsprobleme. Daher beschloss man die Bürgerbeteiligung umzustrukturieren: Weg von Präsenzveranstaltungen hin zu einem Onlineforum, in dem die Bürger angesichts der angespannten Haushaltslage im Wesentlichen Sparvorschläge einbringen können.
In Ilmenau sieht es etwas besser aus: Im Jahr 2013 wurden von Bürgern 80 Vorschläge eingereicht, die nun von der Verwaltung auf ihre Umsetzbarkeit überprüft werden. Auch in Jena funktioniert der Bürgerhaushalt noch: Jährlich wird zu einem ausgewählten Thema ein Fragebogen an 15.000 zufällig ausgewählte Jenaer verschickt. Die Arbeitsgemeinschaft, die den Bürgerhaushalt erarbeitet, sieht sich jedoch von der Politik im Stich gelassen. Der Bürgerhaushalt werde zwar durchgeführt, aber die Politik kümmere sich zu wenig um die Ergebnisse und deren Umsetzung.
Der Weimarer Finanzdezernent Peter Kleine spricht diese Skepsis der Politik und der Verwaltung offen aus: „In Weimar geht es doch nur darum Geld auszugeben!“ Niemand frage in Weimar, worauf man verzichten könne. Daher stelle sich für Kleine die Frage, in welcher Form Bürgerhaushalte in Zeiten knapper kommunaler Kassen überhaupt aufrecht erhalten werden können –so dass sie eben nicht mehr nur ein Wunschkonzert seien, sondern sich auch mit realen haushaltstechnischen Gegebenheiten auseinandersetzen.
Als Gegenbeispiel für die Vernunft der Bürger könne vielleicht eine Geschichte aus Jena dienen, entgegnete Marco Schrul, der Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung in Thüringen. Sie handele davon, wie der Jenaer Finanzdezernent den Bürgerhaushalt lieben lernte. Grundsätzlich stand er der Idee eines Bürgerhaushalts ähnlich skeptisch wie Peter Kleine gegenüber: Die Bürger wollen doch nur mehr Geld ausgeben! Dann entschieden die Bürger erstaunlicherweise im Bürgerhaushalt jedoch, dass die Steuermehreinnahmen vorrangig für die Tilgung der Schulden eingesetzt werden sollte. Diese Entscheidung machte aus dem Skeptiker einen Verteidiger des Jenaer Bürgerhaushalts, da die Bürger doch offensichtlich vernünftig mit Geld umgehen konnten. Und das sogar in den vergangenen Zeiten sprudelnder Kassen!