Der Premierminister rastete aus – das war einfach zu schlechtes Timing! Just als Tim Jackson seine Studie „Wohlstand ohne Wachstum“ vorstellen wollte, waren gerade die G20 bei Gordon Brown zu Gast und wollten gemeinsam darüber diskutieren, wie das weltweite Wachstum wieder beschleunigt werden kann. Dabei war Jackson doch von der damaligen britischen Regierung mit dem Verfassen dieses Berichts beauftragt worden. Nun wollte sie die Ergebnisse nicht sehen, da sie zeitlich unpassend kamen. Dabei erscheinen Jacksons Fragen nach einem ökologisch nachhaltigen Wachstum in einer Zeit der Atom- und der Klimakatastrophe drängender denn je.
Um sich diesen Fragen widmen zu können, müsse man laut Jackson aber erst einmal den Begriff des Wohlstandes neu definieren. In unserer Gesellschaft habe eine viel zu starke Verengung auf die ökonomischen Aspekte stattgefunden: „Einkommenswachstum ist eben nicht Wohlstand.“ Wenn man bei Philosophen nachlese oder die Menschen frage, wie sie Wohlstand definieren, komme man zu einem weitergehenden Konsens: Dieser umfasse zwar auch ökonomische Aspekte, aber ebenso die Beziehungen zur eigenen Familie und zu Freunden, sowie eine essentielle Teilhabe an der Gesellschaft.
Jackson orientiert sich bei seiner Neujustierung des Wohlstandsbegriffs am indischen Philosophen Amartya Sen und übernimmt auch dessen Befähigungs-Modell. Es gehe darum, dass Menschen die Befähigung erhalten, ihr Leben in einer Gesellschaft erfolgreich zu gestalten. Die Frage ist dabei, ob unsere Gesellschaft diese Befähigungen für alle Menschen bieten kann. In einem gewissen Sinne, so Jackson, könne man dies bejahen: Unsere Konsumgesellschaft eröffnet ihren Mitgliedern sehr viele Verwirklichungschancen. Aber diese sind oftmals nur auf materielle Befähigungen und materiellen Wohlstand beschränkt.
Das liege aber auch daran, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften in einem eisernen Käfig des Konsumismus gefangen seien. Erst wenn man erkenne, welche Rolle der materielle Konsum für die Menschen spiele, könne man sie aus diesem auf materiellen Wohlstand ausgerichteten Käfig befreien. Der Konsum ist nicht nur funktional, sondern habe auch eine symbolische Verbindung zu unserem Leben. In der Sprache der Güter erschaffen sich die Menschen ihren sozialen Status und Identitäten. „Die Stäbe des Käfigs bestehen gleichzeitig aus Wünschen und Ängsten“, so Jackson. Die Befriedigung der Wünsche treibt den Konsum voran, die Ängste verhindern eine Änderung des Verhaltens. Denn darin besteht auch ein Dilemma eines möglichen Wandels: Wenn man den Menschen ihre Konsummöglichkeiten nehme, hätten sie Angst um ihre darauf bezogene Identität.
In letzter Zeit werde als Antwort darauf der „grüne Konsum“ propagiert. Nach Jacksons Ansicht kann durch diese sauberere Form des Konsums der Konsumismus aber nicht gestoppt werden. Das liege allerdings auch daran, dass neben der symbolischen Bedeutung, die die Menschen dem Konsum geben, auch wirtschaftliche Interessen an der Aufrechterhaltung des Konsumniveaus bestehen. Sehr gut könne man das an der Energiewirtschaft erkennen. Alle sprächen gerne von einer Steigerung der Energieeffizienz, aber niemand spricht gerne von einer Minderung des Energieverbrauchs. Das wäre nicht im Interesse der großen Energieunternehmen, die ihren Strom verkaufen wollen. Aber mit unseren Konsum-Wünschen treiben wir diese Entwicklung ebenso voran.
An der Energieerzeugung wird auch das Wachstumsdilemma der kapitalistischen Gesellschaften deutlich. Eine auf Wachstum aufgebaute Gesellschaft gerät, laut Jackson, immer dann in ein Dilemma, wenn sie mit den ökologischen Konsequenzen ihres Wachstums konfrontiert wird. Wachstum sei in einer nachhaltigen Weise nicht möglich und die ökologischen Ressourcen können in einer kapitalistischen Gesellschaft nur schlecht geschützt werden. Man müsse die Ökonomen endlich zwingen den Ökologen zuzuhören und umgekehrt. Die klassische, bisherige Antwort der Ökonomen auf dieses Problem lag in der Theorie der Entkopplung. Langfristig, so die Ökonomen, werde sich die wirtschaftliche Entwicklung von ihren ökologischen Konsequenzen entkoppeln, da die Wirtschaft mit steigender Produktivität auch immer energieeffizienter werde. Da hätten die Ökonomen auch Recht, so Jackson. Beispielsweise wurde der Energieausstoß in der industriellen Produktion in den letzten 30 bis 40 Jahren um ein Drittel gesenkt. Gleichzeitig aber stiegen allerdings der Ölkonsum und die Kohlendioxid-Emissionen um 40 Prozent an. Deshalb ist die Entkopplungsthese für Tim Jackson nur ein Mythos: „Der Anstieg der Effizienz wird immer wieder ausgeglichen durch den steigenden Maßstab unserer wirtschaftlichen Aktivität.“
Doch wie lassen sich nun Nachhaltigkeit und Wachstum vereinen? Der von vielen geforderte „Green New Deal“ ist für Jackson nur eine kurzfristige keynesianische Lösung, die keine langfristige Perspektive bietet. Jackson will stattdessen in den nächsten Jahren ein Makromodell des nachhaltigen Wirtschaftens entwickeln. Dafür müsse man viele Begriffe neu definieren oder sich ganz von ihnen verabschieden: Man müsse beispielsweise den Fetisch des Glaubens an die Produktivität brechen, aber auch über die Definition von Rentabilität diskutieren. Das sei die größte Aufgabe, die aus seinem neuen Buch, das im Wesentlichen eine überarbeitete und aktualisierte Version des Berichts ist, erwachse.
Ein paar erste Ansatzpunkte hat Jackson aber auch schon in dem Bericht benannt, den er damals Gordon Brown letzten Endes doch noch vorgelegt hat. Er entwickelte beispielsweise einen 12-Punkte-Plan, in dem Musterbeispiele für mehr Nachhaltigkeit aufgeführt waren, die in anderen Ländern bereits erfolgreich praktiziert wurden. Außerdem versuchte er der Regierung zu verdeutlichen, dass es sinnvoller sei, eine politische Gesamtstrategie in Nachhaltigkeitsfragen zu verfolgen, als willkürlich an einzelnen Problemen herumzudoktern.
Die mediale Aufmerksamkeit für den Bericht war allerdings nach der Veröffentlichung ganz im Interesse der britischen Regierung, nämlich gleich Null. Erst nachdem der Bericht von immer mehr Internetnutzern heruntergeladen und von Nichtregierungs-Organisationen angefordert worden war, begann die mediale Berichterstattung und zwang die Regierung sich mit ihrem eigenen Bericht auseinanderzusetzen: „Die Regierung begrüßt den Nachhaltigkeitsreport und erwartet weitergehende Diskussionen.“ Solch ein langer Weg der Aufmerksamkeitssteigerung scheint seinem Buch „Wohlstand ohne Wachstum“ nicht bevorzustehen – denn bereits jetzt haben die Diskussionen darüber begonnen.