Der Bürgerhaushalt ist tot - es leben die Leitlinien?

Die Euphorie des Anfangs ist verflogen. Als vor etwa zehn Jahren viele Kommunen begannen, ihre Bürger am Haushalt zu beteiligen, wurde dies von vielen euphorisch gefeiert. Dadurch sollte eine neue Kultur der Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene geschaffen werden. Heute sind jedoch viele Kommunen in einer finanziellen Krise und mit ihnen oftmals die eingeführten Bürgerhaushalte.

„Die Bürgerhaushalte waren häufig völlig überfrachtet von Erwartungen“, sagt Dr. Oliver Märker. Er hat die bestehenden Konzepte von Bürgerhaushalten untersucht und auf dem Portal buergerhaushalt.org aufgelistet. Außerdem betreibt er die Agentur „Zebralog“, die Kommunen bei der Ausgestaltung von Bürgerhaushalten unterstützt. Seine Untersuchungen zeigen, welche Modelle von Bürgerhaushalten es in Deutschland gibt und welche Vor- und Nachteile mit ihnen verbunden sind.

Die Bürgerhaushalte in Deutschland basieren, laut Märker, meist auf dem sogenannten Vorschlagsmodell. In diesem Modell werden Vorschläge zum Haushalt von der Verwaltung und den Bürgern gemacht, die dann von den Bürgern bewertet werden sollen. Klassischerweise liefe das dann wie in Köln ab: Wenn der Haushaltsentwurf eingebracht wird, werden die Bürger gefragt, was sie im Haushalt sehen wollen, dann werden die Vorschläge gesammelt und bewertet. Der Vorteil dieses Konzepts sei, dass es einen niedrigschwelligen Zugang für die Bürger bietet, da sie keine Qualifizierung brauchen, um Vorschläge einzureichen. Was einerseits ein Vorteil ist, ist andererseits auch ein Nachteil: Die eingebrachten Vorschläge sind oftmals zu kleinteilig und wiederholen sich oft, wie beispielsweise die Forderung der Einführung einer Hunde- oder Katzensteuer. Zudem haben die Vorschläge nicht die Komplexität, die der Haushalt einer Kommune hat, und weisen damit nur eine geringe Bindung an die haushaltspolitischen Zielsetzungen der Kommune auf. Es besteht also eine Kluft zwischen den kleinteiligen Vorschlägen der Bürger und dem hochkomplexen Haushalt der Stadt.

Die Kommunen mit Bürgerhaushalten suchen momentan nach Wegen, wie diese Kluft überwunden werden kann: Grundsätzlich sollen die Bürger besser informiert werden, damit sie bessere Vorschläge einreichen können. In Köln wird dies versucht, indem die Vorschläge nach einzelnen Stadtteilen regionalisiert werden. Andere Gemeinden, wie Berlin-Lichtenberg oder Frankfurt/Main, entkoppeln die Vorschläge vom Haushalt, so dass sie immer einreichbar sind. In Trier gibt es sogar ein im Haushalt eingeplantes Extra-Budget für den Bürgerhaushalt. Damit könnte dem Bürgerhaushalt allerdings auch die Relevanz genommen werden, weil nur noch „Spielgeld“ verteilt werden kann.

Ein neuer vielversprechender Ansatz ist in Märkers Augen, das Mülheimer Modell. Dort werden haushaltspolitische Zielsetzungen durch den Stadtrat und die Verwaltung in Szenarien und Konzepte übersetzt und dann mit den Bürgern diskutiert. Auf diese Weise konnte ein komplexes Informationssystem geschaffen werden.

Im Jahr 2011 war in Mülheim eine Biogasanlage gebaut worden, die sich allerdings als ein Riesenflop heraustellte. Nach einem Regierungswechsel gab es daher ein großes Interesse an der Aufarbeitung dieses Debakels und den Wunsch nach stärkerer Bürgerbeteiligung, berichtet Michael Schneider, der Mülheimer Leiter des Sachgebiets Finanzen. Dies jedoch vor dem Hintergrund, dass Mülheim stark sparen muss, weil es in jedem Jahr 7 Millionen Euro neue Schulden macht.

Man entwickelte daraufhin drei aufeinander aufbauende Modelle der Beteiligung: Im ersten Modell soll es lediglich darum gehen, den Bürger zu informieren über den Haushalt und das, was gerade geplant wird. Der Bürger bleibt nur passiv. Beim zweiten Modell geht es um eine Diskussion mit dem Bürger auf Augenhöhe über die Dienstleistungen, die die Stadt anbietet. Dafür wurden die komplexen Dienstleistungen der Stadt, mit denen der Bürger in Kontakt kommt, zu 72 „Produkten“ zusammengefasst. So kann zum Beispiel der Wald für den Bürger und für die Stadt verschiedene miteinander konkurrierende Funktionen haben: Zum einen ist es ein Nutzwald, aus dem der Förster beispielsweise Holz gewinnt, dann ist es aber auch ein Erholungswald, der der Bevölkerung zur Entspannung dient, und außerdem hat der Wald auch eine generelle Schutzfunktion. Welche Qualität soll also der Mülheimer Wald haben? Darüber will man mit dem Bürger sprechen und die Konflikte aufzeigen. In einem dritten Modell sollen die Interessengruppen, die sich für den Wald interessieren, in die Planung mit einbezogen werden. Sie sollen gemeinsam klären, wo die Entwicklung des Waldes hingehen soll.

Nach der Vorstellung dieser drei aufeinander aufbauenden Modelle, beschloss der Mülheimer Stadtrat, dass alle drei Modelle umgesetzt werden sollen. Jährlich werden seitdem vier Produkte der Stadt vorgestellt, die dann von den Bürgern bewertet werden können. Außerdem können die Bürger Vorschläge zu den Produkten einreichen, von denen die fünf Vorschläge mit den meisten Ja-Stimmen und die 10 Vorschläge mit den meisten Nein-Stimmen dem Stadtrat zur Entscheidung vorgelegt werden. Allerdings machte man, so berichtet Schneider, in Mülheim die Erfahrung, dass die Reduzierung auf Produkte für viele Bürger zu eng war. Man will nun übergeordnete Leitbilder entwickeln, aus denen dann Vorschläge entstehen können, z.B. können Vorschläge zum Leitbild Umweltschutz eingereicht werden.

Neben diesen Weiterentwicklungen der bestehenden Bürgerhaushalte gibt es gleichzeitig seit etwa drei Jahren die Entwicklung, dass Kommunen Leitlinien für mehr Bürgerbeteiligung entwickeln (siehe Artikel). Durch Leitlinien soll mehr Transparenz bei städtischen Vorhaben gewährleistet und eine Beteiligung der Bürger daran ermöglicht werden. Dies wird beispielsweise in Heidelberg durch eine Vorhabenliste umgesetzt, auf der alle Vorhaben der Stadt aufgelistet werden – bereits drei Monate bevor sie in Gremien diskutiert werden.

Dieses neue Modell der Bürgerbeteiligung weist allerdings keine strategische Komponente auf: Es geht nur um die Beteiligung an geplanten Vorhaben und nicht um die Frage, was geplant werden soll oder wofür Geld ausgegeben werden soll. Während also bei den Bürgerhaushalten die Kleinteiligkeit und Unterkomplexität der Vorschläge durch neue Informationskonzepte ausgeglichen werden soll, ist das Nicht-Strategische bei den Leitlinien noch das grundlegende Prinzip. Daher haben beide Konzepte der Bürgerbeteiligung auf städtischer Ebene meist auch wenig miteinander zu tun. In Bonn existieren beide Bürgerbeteiligungsmodelle parallel – ohne durch ein übergreifendes Beteiligungskonzept miteinander verbunden zu sein.

Dabei könnte man bei der Entwicklung der Leitlinien auch auf die Erfahrungen zurückgreifen, die bei der Einführung der Bürgerhaushalte schon gemacht wurden. Diese wurden anfangs enorm mit Erwartungen überfrachtet. Wenn Bürger bisher gar nicht mitreden konnten und nun plötzlich sogar Vorschläge machen und abstimmen konnten, so Oliver Märker, dann wurde dies meist als Ventil genutzt, um alle möglichen Probleme zu thematisieren. Eine Lösung dafür ist es, dass Kommunen solche Probleme in ein Anliegenmanagement überführen, wie z. B. die Maerker-Plattform in Lichtenberg und Brandenburg (vgl. Artikel). Dort melden die Bürger Probleme und Anliegen auf einer Internet-Seite. Dann müssen diese innerhalb einer bestimmten Zeit von der Verwaltung behandelt werden. Wenn der Bürgerhaushalt und die Leitlinien durch ein solches Anliegenmanagement vor Überfrachtungen geschützt werden würde, ließe sich beides einfacher umsetzen. Ob Kommunen jedoch beide Konzepte umsetzen können, hinge auch von deren personellen Kapazitäten ab. Märker erklärte: „Die Einführung ist meist stark personenzentriert, hängt also von Personen ab, die sich dafür einsetzen.“ Offen bleibt also, inwieweit es in einer Stadt genügend Personen gibt, die sich für beides einsetzen können.

Märker ist für die Zukunft allerdings optimistisch. Es werde durch den demographischen Wandel ein starker Innovationsdruck auf die Verwaltungen entstehen. Seine Prognose ist: „Auch wenn wir nichts machen, wird es in zehn Jahren mehr Bürgerbeteiligung geben, auch ein Anliegenmanagement.“ Unabsehbar ist auch, wie sich die neuen Medien auf die Bürgerbeteiligung auswirken. In Wien wurde beispielsweise eine App von Bürgern entwickelt, mit der man melden konnte, wenn in der U-Bahn Rolltreppen kaputt waren. Diese App wurde so gut angenommen und hat damit so starken Druck auf die Verkehrsbetriebe ausgelöst, dass sie diese Informationen nun selbst online stellen.

Man müsse allerdings auch realistisch auf die Bürgerbeteiligungskonzepte schauen, schränkte Märker ein: „Wir sollten keine Beteiligungsromantik betreiben.“ Auch in Zukunft werden sich große Teile der Bevölkerung nicht an diesen Projekten beteiligen. Am besten sei es daher, „wenn wir mit Pragmatismus voranschreiten.“