„Ein größeres Thema gibt es eigentlich gar nicht!“ Am Anfang entschuldigte sich die taz-Journalistin Ulrike Herrmann fast für ihren Ansatz. Aber in zwanzig Minuten wolle sie tatsächlich von beidem sprechen: Vom Anfang und vom Ende des Kapitalismus.
Der Kapitalismus begann laut Herrmann um 1760 in England. Er sei durch Zufall und ohne Planung entstanden. Die Textilindustrie sei durch zu hohe Löhne in Großbritannien nicht mehr wirtschaftlich und nicht mehr konkurrenzfähig gewesen: Menschen waren zu teuer, deshalb wurden Maschinen eingesetzt. Die Produktion wurde durch den Einsatz von Technik optimiert und rationalisiert. Der Kapitalismus wird laut Herrmann durch die hohen Löhne getrieben, weil sie die Unternehmer zu weiteren Innovationen zwingen.
Es sei ein System entstanden, das auf dem Prinzip des Wachstums basiert. Unternehmen investieren nur dann, wenn sie einen zusätzlichen Gewinn erwarten können. Dieser zusätzliche Gewinn sei das Wachstum. Einen Kapitalismus ohne Wachstum kann es daher laut Herrmann nicht geben. Entweder die Wirtschaft wachse oder sie schrumpfe. Eine Postwachstumsgesellschaft, wie sie sich viele vorstellen, müsste eine schrumpfende Gesellschaft sein.
Dem widersprach Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena: Eine Postwachstumsgesellschaft sei eine Gesellschaft, die nicht stetig wachsen müsse, nur um den Status quo zu halten. Das Problem sei die neue Steigerungslogik des Kapitalismus: Je erfolgreicher man in diesem Jahr gewesen ist, desto mehr müsse man im nächsten Jahr noch zulegen. Bei dieser Logik des Kapitalismus gehe es nicht mehr darum, Hunger und Armut zu beseitigen, sondern nur noch um Wachstum und Steigerung. In einer Postwachstumsgesellschaft, die aus dieser Logik aussteigt, könne es dementsprechend auch sinnvolles Wachstum geben, wie beispielsweise die Beseitigung von Hungersnöten in Afrika.
Allerdings gebe es diese Steigerungslogik nicht nur in ökonomischen Zusammenhängen. Sie übersetze sich auch in die Psyche der Menschen. Die Idee ist laut Rosa: „Jetzt werde die Basis geschaffen, damit wir in Zukunft besser leben können. Wer jetzt stehenbleibt, der fällt zurück.“ Es sei für ihn erstaunlich, wie sehr die Lebensführung mittlerweile der Erhaltung des Wettbewerbssystems diene. Die größte Angst der Menschen sei es, abgehängt zu werden. Daher wollen die meisten Menschen heutzutage, so Rosas Diagnose, durch ihr Handeln ihre „Weltreichweite“ erweitern. Geld sei dafür das Mittel der Wahl: Durch Geld könne man seine Weltreichweite enorm erweitern, so könne man beispielsweise nach Japan fliegen oder ein Smartphone kaufen, das die Welt in die Hosentasche bringt.
Sein Gegenentwurf zu dieser Steigerungslogik der Weltreichweite ist das Eingehen von Resonanzbeziehungen. Am Musikkonsum verdeutlicht er das: Der Dienst Spotify ermögliche es auf eine Bibliothek von Millionen von Songs zuzugreifen – er steigert die Weltreichweite enorm. Das ändert aber nichts am resonanten Musikerleben, das eine tiefe Nähe zur Musik und eine Berührung durch die Musik bedeutet. Eine solche Resonanzerfahrung stelle sich nicht häufiger ein, wenn man Millionen Titel zur Verfügung hat. Der Kapitalismus erzwingt, laut Rosa, eine verdinglichende und ständig optimierende Weltbeziehung der Menschen.
Das sei alles richtig beschrieben, entgegnete Herrmann: Es gebe diese ökonomische Steigerungslogik des Kapitalismus – aber diese sei nicht neu, sondern es gab sie von Anfang an. Auch die Auswirkungen dieser Steigerungslogik auf die Individuen, habe Rosa richtig beschrieben. Diese gehören jedoch nicht zwangsläufig zum System des Kapitalismus, sondern seien ein recht neues Phänomen, das es erst seit etwa 1980 gebe.
Eine Konkurrenz unter den Arbeitern habe es auch schon im 19. Jahrhundert gegeben. Die Antwort des Kapitalismus darauf waren die Gewerkschaften: Sie verhindern, dass der einzelne Arbeitnehmer mit dem Unternehmer seinen Lohn frei aushandeln muss, stattdessen vertreten sie ihn und schalten damit den Wettbewerb unter den Lohnarbeitern aus. Doch seit etwa 1980 sinkt die Macht der Gewerkschaften. Dadurch entstanden erst die von Rosa beschriebene permanente Konkurrenz zwischen den Arbeitern und ihre Übersetzung in die Psyche der Menschen. Man müsse auch sehen, dass der Kapitalismus immer politisch gestaltet wurde und dass es einen „wahnsinnigen Unterschied“ mache, ob man von einem politisch gesteuerten Kapitalismus nach Margaret Thatcher oder nach Keynes spreche.
Deshalb sollte Rosa eine Entwicklung, die es erst seit 1980 gebe, nicht zum Systemzwang adeln. Denn: „Wenn man eine neoliberale Kontingenz zum Systemzwang erhebt, dann haben die Neoliberalen schon gewonnen.“
Der Kapitalismus gehe aber schon lange tiefer, erwiderte Rosa, nicht erst seit 1980. Bereits Max Weber habe Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben, wie es wichtig wird, sein Leben zu planen. Menschen können ein Stück weit durch Disziplinar- und Strafmaßnahmen, wie Michel Foucault sie beschrieben habe, zum Mitmachen im Kapitalismus gezwungen werden. „Aber wenn sie dann noch mehr wollen, können sie es nicht mehr gegen die Menschen machen, sondern mit und durch sie.“ Die kapitalistische Logik müsse von den Menschen verinnerlicht werden.
Die Gewerkschaften sind in Rosas Augen Teil des Problems: Sie haben dem Kapitalismus letzten Endes beim Überleben geholfen. Dass die Gewerkschaften einen höheren Lohn fordern, sei die eine Seite des Steigerungsspiels – das führe wiederum zu einer Steigerung auf der anderen Seite. Daher entgegnete er Ulrike Herrmann zugespitzt: „Sie wollen einen gut funktionierenden Kapitalismus – ich will davon weg!“
Das Argument, dass die Durchdringung des Kapitalismus schon eher begonnen hatte, überzeugte Herrmann. Aber auch sie will weg vom Kapitalismus – ihr Problem sei nur, dass sie bisher den Weg nicht sehe. Es gebe zwar viele, in sich schlüssige Visionen von Systemen, die den Kapitalismus ablösen könnten. Was laut Herrmann jedoch fehlt, ist eine Antwort auf die Frage, wie der Übergang vom einen zum anderen System gestaltet werden kann. Sie drückt es in einem drastischen Bild aus: „Alle wissen, dass wir gegen die Wand fahren. Die einen fahren gegen die Wand, die anderen prophezeien, wie die Welt hinter der Wand aussieht. Aber niemand erforscht, wie man bremst.“
Und den Aufprall dürfe man sich nicht friedlich vorstellen: Man könne das bereits an Griechenland studieren. Nicht nur der Staat löst sich auf, sondern auch die Gesellschaft. Das Ende des Kapitalismus werde mit einer chaotischen Schrumpfung einhergehen, prophezeit sie. Und die Reaktion der Gesellschaft könne man auch schon an der letzten großen Krise 2008 erkennen: „Damals gab es eine fünf-prozentige Schrumpfung der Wirtschaft und alle drehten bereits am Rad. Wenn das passiert, dann ist Panik und nichts mit kreativem Ausstieg.“
Doch vielleicht könne man am krachenden Ende des Kapitalismus auch noch einmal zu seinem Anfang zurückkehren. Herrmann erinnerte noch einmal daran, dass niemand den Kapitalismus kommen gesehen hatte und auch niemand ihn geplant hatte. Möglicherweise sei es ja wieder so: „Vielleicht entsteht gerade im Moment auch etwas Neues – und keiner hat es geplant und wir alle sehen es nicht.“