Dem Thema eine Lobby geben

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von Carmen Fiedler

Fast zwei Monate nach der Debatte zur frühkindlichen Bildung in Thüringen, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V., der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Kolleg des QuerWege e.V. Kita-Leiter*innen und Erzieher*innen aus dem Freistaat nach Erfurt geladen hatten, fanden sich erneut Menschen zusammen, die sich über das Thema austauschten. Genauer: Eine Handvoll Expert*innen traf sich am späten Nachmittag des 22. Mai in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Erfurt, um eine erste Strategie zu erarbeiten, wie es möglich werden könnte, das wichtige Thema zu bündeln, ihm eine Lobby zu geben, sich zu vernetzen und gemeinsam zu einer starken Stimme für gute frühkindliche Bildung in Thüringen zu werden. „Die Idee, eine Fachdebatte anzuzetteln, indem man die Praktiker*innen mit einbezieht, ist schon Jahre alt. Wir wollen eine öffentliche Bewegung initiieren, die an die Öffentlichkeit geht und an der keine Politik mehr vorbeikommt. Hier sollen viele Menschen, die Erfahrung haben, zusammenkommen. Jetzt packen wir es an“, unterstrich Anke Mamat vom Kolleg des QuerWege e.V. denn auch.

Sie betonte weiter: „Wir haben bei den Praktiker*innen angefangen. Das gute ist: Es gibt viel Zufriedenheit. Gott sei Dank ist der Beruf beliebt. Heute haben wir Vertreter*innen der Ausbildungsstätten eingeladen. Wir brauchen ihre Meinung, ihr Wissen. Wenn alles zusammenfließt mit allen, die an frühkindlicher Bildung beteiligt sind, können wir das am Ende in einem Institut bündeln.“ Solveig Negelen von der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V. ergänzte: „Wir bringen in dieser Konstellation Menschen zusammen, die sonst nicht an einem Tisch sitzen. Wir begleiten den Prozess, bis er zum Selbstläufer wird, dafür sind wir als Böll-Stiftung da.“

Dieser Prozess soll vorerst in einen landesweiten Workshop münden, in dem neben wissenschaftlichem Input Workshops angeboten und Kernaussagen gebündelt werden. Zielgruppe sind vorrangig Erzieher*innen. Darüber waren sich alle Expert*innen einig.

Denn immer wieder wurde betont, wie wichtig der Austausch zwischen Theorie und Praxis sei. Aber auch, welche Bedeutung es habe, der frühkindlichen Bildung in Thüringen eine Stimme zu geben. So meinte Dr. Susanne Jurkowski, Professorin für Inklusive Bildungsprozesse mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an der Universität Erfurt: „Ein Anliegen, das mich als Dozentin sehr beschäftigt, ist der Theorie-Praxis-Bezug. Oftmals ist die persönliche Überzeugung nicht das, was wissenschaftlich fundiert ist. Wir sind gerade dabei, mehr die Forschungsperspektive einzubringen. Was sagt die Forschung dazu? Wie kann man Forschung umsetzen?“. „Die Praktiker*innen erwarten von der Wissenschaft, dass die Angebote niederschwelliger werden“, erwiderte Anke Mamat. Eine Idee, wie das umsetzbar wäre, sei eine Art Pool, in dem Ergebnisse aus der Forschung zusammengestellt werden, denn: „Gemeinsames Handeln setzt ein gemeinsames Verständnis voraus, und zwar auf einer sehr konkreten Ebene. Was wünsche ich mir für die Kinder? Was ist gute Qualität in der Kita?“, so Jurkowski.

Prof. Dr. Michaela Rißmann, Prodekanin für Studium und Lehre an der Fachhochschule Erfurt und Studiengangsleiterin des Bachelorstudiengangs „Pädagogik der Kindheit“, bestätigte aus ihrer Erfahrung: „Wir sind mit der Praxis gut vernetzt, weil unsere Student*innen fünf Praxisphasen durchlaufen. Meine Studierenden fragen, warum es so eine große Kluft zwischen dem, was in der Theorie steht und dem, was in der Praxis umgesetzt wird, gibt.“ Und: „Ich vermisse die Fachdebatte über die Pädagogik der frühen Kindheit in Thüringen. Thüringen hat sich lange darum herumgemogelt, über Qualität zu diskutieren. Es wurde nie evaluiert, wie der Bildungsplan in der Praxis verankert ist“.

Das betonte auch Nadine Hübener, Referentin für Bildung bei der GEW Thüringen: „Leider wird in Thüringen nur eine quantitative, keine qualitative, Debatte geführt“. Rahmenbedingungen seien ein ganz wichtiger Punkt. Das hat sich auch auf dem ersten Treffen zur frühkindlichen Bildung gezeigt. Nadine Hübener: „Rahmenbedingungen sollten nicht nur von den Gewerkschaften thematisiert werden, sondern auch zum Beispiel von den Fachschulen“.

Ein Institut, das alles zum Thema bündelt, wäre an dieser Stelle eine große Hilfe. Denn, so Christiane Eckert, stellvertretende Leiterin einer Kita in Erfurt: „Ich habe festgestellt, dass man aus der Praxis heraus sehr verwirrende Antworten bekommt, wenn man Hilfe braucht. In Thüringen gibt es keine Bündelung, man weiß nicht, wo genau man sich mit bestimmten Fragen hinwenden soll. Da eine Plattform zu schaffen, wo wir uns alle wiederfinden, das ist meine Vision“.

Kleinere Netzwerke gibt es schon. Jens Daniel, Abteilungsleiter der Abteilung Soziales der Marie-Elise-Kayser-Schule in Erfurt unterstrich: „Wir haben bereits ein Netzwerk aus den Fachschulen Erfurts gesponnen. Ziel war, dass wir das, was wir theoretisch behandeln, mit der Praxis abgleichen. Wir haben in unserem Netzwerk Workshops angeboten. Hier kamen Praxis und Theorie ins Gespräch. Hier und heute ist uns wichtig, dass wir im Diskurs mitwirken können“. Dem stimmte auch Sybille Lenk vom Ausbildungszentrum Weimar zu.

Solveig Negelen fasste zusammen: „Wichtig ist, sich auf Augenhöhe zu treffen. Wir könnten dem Ganzen das Label ‚Fachdebatte über Kindheitspädagogik‘ geben“. Und Anke Mamat ergänzte: „Wir brauchen genau die Leute, die mit uns darüber diskutieren wollen“.

Dazu laden die Initiator*innen am 30.10. von 14 bis 17 Uhr in das Café Nerly nach Erfurt ein.