Ägypten – eine erfolglose Revolution?

„Wer glaubt, dass die Revolution in Ägypten erfolgreich war?“ Niemand zeigte eine eindeutige Reaktion auf die Frage der Referentin. Es herrschte eine große Unsicherheit im Raum: Wie ist die Revolution zu bewerten? Doch die Referentin ist überzeugt: Sie sieht die Revolution in Ägypten nicht als Misserfolg und erst recht nicht als abgeschlossen.

„Was ist passiert?“

Vor der Revolution 2011 sei das politische System unter Mubarak autoritär gewesen. Ägypten sei ein stabiler Staat gewesen, doch habe der ägyptische Staat politisch und wirtschaftlich stagniert. So beschrieb Salah den Blick der Mainstream-Politikwissenschaft von oben auf das Ägypten vor der Revolution. Salah selbst ist Politikwissenschaftlerin und arbeite als Publizistin. Bis 2011 war sie Mitarbeiterin am Otto-Suhr Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, nun arbeitet sie freiberuflich. Die gebürtige Ägypterin forscht zu den Feldern Kultur und Politik der arabischen Länder, Islamismus und soziale Bewegungen sowie Frauen und Jugend in arabischen und muslimischen Gesellschaften. Im Unterschied zu den Mainstream-Politikwissenschaften nehme ihr Blick auf Ägypten die Zivilgesellschaft und die gesellschaftlichen Akteure und Individuen in den Fokus, erzählte Salah. Und dieser Blick von unten auf die gesellschaftlichen Ebenen und die Partizipation zeige die Bewegung und Lebendigkeit in den Straßen von Kairo, den zunehmenden Widerstand gegen Mubarak zu dieser Zeit. „Die Revolution kommt“: ein Aufruf, geschrieben an einer Wand in Kairo und er sollte sich bewahrheiten.

Die Muslimbrüder seien zu Zeiten Mubaraks die stärkste Opposition im Land gewesen, sagte Salah. „Sie wurden nach der Revolution als Regierung gewählt. Und zwar nicht nur von religiösen Muslimen, sondern auch von vielen Strömungen der Gesellschaft sowie von Säkularen und Christen als Antwort auf Mubarak“, sagte Nashed, der 2004 mit seiner Familie von Ägypten nach Deutschland kam und seitdem Arabisch unter anderem an der Universität Erfurt unterrichtet. „Gerechtigkeit und Freiheit“ habe der Name der Partei versprochen. Die ägyptischen Bürgerinnen und Bürger hätten sie als moralische und politische Alternative zu Mubarak gewählt. Doch die Hoffnung auf den politischen Islam der Muslimbrüder als Lösung für Ägypten sei gestorben. „Die Muslimbruderschaft hat denselben Fehler begangen, wie das alte System: Sie waren autoritär und elitär, bevorzugten nur ihre Anhänger. Außerdem haben sie die Menschen nicht in ihrem Privatleben, in ihren Häusern oder zum Beispiel als Frau in Ruhe gelassen“, sagte Salah. Militär und die Geheimpolizei hätten die schwindende Unterstützung der Muslimbruderschaft in der Bevölkerung für sich genutzt.

Im Unterschied zu den Muslimbrüdern mische sich das Militär nicht in die persönlichen Angelegenheiten der Menschen ein. „Die Hoffnung ruht heute auf Sisi und die Transformation durch ihn“, beschrieb Salah die in Ägypten verbreitete Stimmung. Auch Teile der intellektuellen Elite kooperierten mit der Armee. Die meisten Ägypter und Ägypterinnen würden keinen demokratischen Dritten Weg des Wandels jenseits all dieser autoritären Kräfte sehen, bedauerte Salah.

Außerdem stehe die Situation im Land noch einem anderen Bild gegenüber: Der Blick nach Syrien beunruhige die ägyptische Bevölkerung. „Das Nationalgefühl ist sehr stark in Ägypten. Syrien und der Zerfall von Ägypten sind ein Horrorszenario für die Menschen“, sagte Salah. Und die Angst vor Terrorismus, vor Anschlägen in Ägypten sei sehr präsent.

„Wo ist die Revolution jetzt?“

Die Bewertung der Revolution sei eine Frage der Perspektive, sagte Salah. Der in den Mainstream-Politikwissenschaften vorherrschende Blick bleibe oft auf die staatliche Ebene beschränkt: auf die fehlende Verfassung, auf die autoritäre Regierung durch das Militär. Man fokussiere sich auf die wirtschaftliche Lage und die Situation der Frauen, ohne die Inhalte der Frauen zu berücksichtigen. So komme man leicht zu dem Schluss: „Die Revolution hat Misserfolg. Sie ist beendet.“

Salah widerspricht: Dieser Blick sei zu oberflächlich. „Revolution ist Prozess.“ Es fehle der Blick von unten auf den langsamen gesellschaftlichen Wandel, den Wandel der Werte und der politischen Kultur. Die Revolution habe den Bürgerinnen und Bürgern selbst die Unterschiede innerhalb der ägyptischen Gesellschaft vor Augen geführt. So sei die Innenstadt Kairos vor der Revolution nicht für alle Menschen zugänglich gewesen. Erst in dieser Zeit seien bestimmte Schichten überhaupt sichtbar geworden.

„Das Volk will das System stürzen? Stimmt nicht“, sagte Salah und verwies auf die verschiedenen Strömungen, Meinungen und Interessen innerhalb der Bevölkerung – auch bezüglich des Stadt-Land- und des Nord-Süd-Gefälles innerhalb der Nation. So sei Meinungsfreiheit, individuelle Menschenrechte zwar für die säkulare Mittelschicht die Antriebskraft. Doch arme Menschen und die Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten, bildeten die größte Schicht der ägyptischen Gesellschaft. Und für sie seien soziale Menschrechte, der Zugang zu Strom, Wasser und einer guten Bildung wichtiger. Zudem habe sich die Lage in Ägypten verschlimmert. „Den Menschen geht es heute schlechter als unter Mubarak“, war auch Nasheds Meinung. Gleichzeitig erzählte er von den Graffitis an den Häuserwänden in der Hauptstadt und wie froh ihn dieser Anblick mache. Für ihn seien sie Zeichen kultureller Freiheit und eines gesellschaftlichen Wandels in Kairo.

Werden also die Menschen, die sich die steigenden Preise für Lebensmittel, Mieten und gute Bildung nicht leisten können, Motor der Veränderung in Ägypten? Salah verwies auf die jungen Menschen in Ägypten. Sie würden nicht mehr versuchen das System konfrontativ zu verändern, sondern durch soziale oder kulturelle Projekte indirekt Einfluss nehmen.

„Die Revolution in der DDR war 1989. Und ist die Wende vollzogen?“, fragte Salah und stieß damit leise auch Fragen nach der deutschen Perspektive auf das Geschehen in Ägypten und nach dessen Bewertung an.

Ägypten habe in kurzer Zeit drei verschiedene Systeme erlebt, erinnerte Salah. „Vier Jahre sind sehr wenig.“ Und hoffnungsvoll: „Unsere Revolution ist noch ein Baby.“