Mit drei Kleinbussen kamen die Besucher der Böll Stiftung an einem sonnigen Septemberwochenende 2015 in das rheinland-pfälzische Andernach an. Teilnehmer_innen aus dem thüringer Saalfeld, Nordhausen und Erfurt sowie aus Rheinland-Pfalz ließen sich durchs Projektgebiet der „Essbaren Stadt“ führen. Unvoreingenommen und fasziniert lauschten sie den Ausführungen der Sprecherinnen, welche speziell geschult sind und in engem Austausch mit den Projektpartnern stehen. Das macht sich bemerkbar. Zwar kennEin reisebericht aus der "Essbaren Stadt"en die Gastgeberinnen nicht jeden der über zwanzig Mitarbeiter von Perspektive gGmbH, welche für den Aufbau und die Pflege der Anlagen zuständig sind, persönlich. Doch haben sie fundiertes Wissen über Abläufe und Wirkweisen der Anlagen und geben dieses bei mehr als 50 Führungen jährlich an interessierte Laien und Fachkundige weiter. Einige Projektflächen ziert der bekannte „Perennemix“, eine Kombination attraktiv blühender Staudenpflanzen, die nicht für den Verzehr bestimmt und so im engeren Sinne eigentlich nicht „Essbare Stadt“ sind. Einen ökologischen und ökonomischen Zugewinn gegenüber konventioneller Wechselbeet - bepflanzung stellen sie aber dennoch dar.
Die Jahresthemen sind gut gewählt und den Mitgestaltern werden auch so schnell nicht die Ideen ausgehen. Die Lage der Stadt Andernach im Rheintal und auch die Lage der Beete selbst an den alten Stadtmauern wirkt beinahe mediterran. In sogenannten Sonnenfallen finden Nutzpflanzen beste Bedingungen vor. Sogar das Kultivieren von Zitrusfrüchten und Exoten wie Feigenbäumen wäre hier denkbar. Aktuell haben Passionsblumen und Knackmandeln an solchen klimatisch begünstigten Stellen einen Platz zum Wachsen gefunden.
Im FaiRegio-Laden, in dem „eine Welt“ und die regional verankerte Perspektive gGmbH zusammen ihre Produkte anbieten, kam es im Anschluss an die Führung bei frischem Federweißer zu substanziellen Diskussionen. Die Exkursionsteilnehmer_innen hatten nun Gelegenheit, Strukturen und Akteure der „Essbaren Stadt“ näher kennenzulernen. Das Gespann aus der Verwaltung in Andernach, der Perspektive gGmbH und der Politik arbeitet vorbildlich zusammen und kommt fast ohne Bürgerbeteiligung aus. Aber nicht ohne Ehrenamt: Das Engagement der Beteiligten ist hoch und der Erfolg des Projektes zeigt sich auch darin, dass es bereits zahlreiche Nachahmer, wie z.B. Jena und Kassel gefunden hat.
Die hochkarätige Besetzung unserer Exkursionsgruppe mit Kommunalpolitiker_innen und Vorständler_innen aus den unterschiedlichsten grünen Initiativen haben sich erst zum Dinner Speech einander vorstellen können. Der ebenfalls anwesende Bürgermeister von Andernach und Vertreter aus Verwaltung und Stadtrat freuten sich über positives Feedback aber auch über kritische Stimmen. Es wurde deutlich, dass es in dem Bemühen der Verwaltung, die lokale Wirtschaft und Bildungseinrichtungen mit ins essbare Boot zu holen, mitunter zu Spannungen, letztlich aber auch immer wieder zu kreativen Lösungen kommt. So schmücken individuelle Hochbeete die Passagen. Auch der Wettbewerb „gestalte 1qm Andernach“ ist auf fruchtbaren Boden gefallen und viele Fleckchen neben den Projektgebieten der „Essbaren Stadt“ sind von Bürgerinnen und Bürgern begrünt worden.
Während der Vortragsreihe am Abend hatten die Exkursionsteilnehmer_innen nicht nur Gelegenheit, sich mit den in die eigenen Städte übertragbaren Elementen der „Essbaren Stadt“ zu beschäftigen, sondern auch, etwas über die spezifischen Eigenheiten der Umsetzung hier in Andernach zu erfahren. So ist ein Bürgermeister, der den Akteuren gegen die Bedenken des Stadtrates erst einmal freie Bahn verschafft, durchaus erwähnenswert. Von Resilienz und Megatrends war die Rede, wenn Gärtnern und essbares Grün im städtischen Raum Platz finden. Besonders ist auch die Verschränkung der „Essbaren Stadt“ mit der ländlichen Umgebung Andernachs. Das Luftbild der Permakulturfläche in Eich war faszinierend für alle und Anlass genug, unser Programm in der Stadt etwas zu straffen. Denn die Verlängerung unserer Exkursion in den Außenbereich der „Essbaren Stadt - Andernach“ war ein Muss.
Am zweiten Tag der Exkursion trafen wir uns ausgeruht und nach einem ausgiebigen Hotelfrühstück wieder. In dem Konferenzraum mit Rheinblick herrschte betriebsames Wuseln. Zum Vortrag von Herrn Kossak waren alle Plätze besetzt. Wieder neue Einblicke und auch Ausblicke brachten uns das Ausmaß der „Essbaren Stadt“ näher. Etliche wissenschaftliche Arbeiten und internationale Besuche beweisen das Interesse an diesem Konzept.
Die Protagonisten werden zudem nicht müde, die Vorzüge für Tourismus und die Bürger_innen darzustellen. Mit vollem Eifer gingen die Teilnehmer_innen in die Workshoprunde und versuchten ihre eigenen Kommunen auf Tauglichkeit für eine Implementierung des Konzeptes zu prüfen. Durchweg waren Ansätze und Personen zu finden, welche sich mit dem Bereich urbane Gärten und gemeinschaftliches Gärtnern beschäftigen. Dabei kam zwar kein einziger Top-down-Ansatz, wie er hier in Andernach vorgestellt wurde, zur Sprache, aber der ist ja auch kein Garant für Gelingen. Als beste Variante wurde die beiderseitige Verfolgung einer „grünen Stadtentwicklung“ befunden. Dabei wird die Umsetzung von ähnlichen Konzepten von unten gefordert und gleichsam die Unterstützung durch Verwaltung und Politik. „Helfende Hände“ ist dabei das Stichwort des Erfolges.
Während des anschließenden Weges zur Permakulturfläche in Eich war die Spannung auf dieses wachsende Eiland richtig spürbar. Auf einem sehr durchlässigen Bimssteinhügel wachsen tatsächlich prächtige Gemüsepflanzen. Durch das Zusammenwirken mehrerer Akteure und guter Planung ist dieser Südhang in den fünf Jahren seit seinem Bestehen zu einem der prachtvollsten Gemüsegärten geworden, die ich bisher besuchen durfte. Der Planung der Anlage liegt ein Entwurf der Berliner Permakulturakademie zugrunde. Und was daraus entstand, ist ein funktionierendes System aus Mensch, Pflanzen und Tieren. Die Stadt ist dabei nur die Bühne für diese Vielfalt. Nichtsdestotrotz blieb die Begeisterung für die Umsetzung eigener Projektideen in der Stadt in den Köpfen der Exkursionsteilnehmer_innen nicht minder präsent. Die gedankliche Beschäftigung mit Ideen und Möglichkeiten des urbanen Lebensmittelanbaus war angestoßen. Und wenn so ein kreativer Stein erst einmal im Rollen ist, dann ist eine Busfahrt genau das richtige, um die ersten Einfälle zu Plänen weiterzuspinnen. Die fast vierstündige Fahrt nach Erfurt wurde dafür gut genutzt. Skizzen wurden entwickelt, Beschreibungen verfeinert und Termine gemacht. Ein fruchtbares Eckchen im Stadtgebiet sollte doch aufzufinden sein.
Der Ausflug nach Andernach war eine Bereicherung und bildend sowieso. Die überregionale Zusammenarbeit der Heinrich Böll Stiftung ist wirklich beispielhaft.
So ist das Projektgebiet „Essbare Stadt - Andernach“ eine der schönsten Blüten des Urban Gardening. Wir wünschen weiterhin viel Erfolg und gute Ernte.