Die Zeit, in der Briefe über die Grenzen Europas geschmuggelt werden mussten, damit sich Freunde austauschen konnten, scheint unendlich lange zurückzuliegen. Und das nicht nur, weil heute kaum noch Briefe geschrieben werden. Gerade mal ein halbes Jahrhundert und weniger ist vergangen, seitdem Menschen wie Fritz Pleitgen, der 1970 – 1977 Moskau-Korrespondent der ARD war, und Klaus Bednarz, Pleitgens Nachfolger als Korrespondent, heimlich Briefe, aber auch Medikamente, Bücher und Manuskripte, über den Eisernen Vorhang hinweg von der BRD in die Sowjetunion und umgekehrt schmuggelten. Unter anderem Briefe, die sich Heinrich Böll und Lew Kopelew zwischen 1962 und 1982 schrieben.
Am 2. März lasen die Zeitzeugen Pleitgen und Bednarz, beide Freunde Kopelews, aus dem „Heinrich Böll – Lew Kopelew. Briefwechsel“*, einem Band, in dem rund 240 Briefe, Postkarten und Telegramme versammelt sind. Anlass waren die diesjährigen Bölltage der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen.
Vorab wurde das Publikum durch einen Filmausschnitt auf die Lesung eingestimmt. Klaus Bednarz führte1979 aus Anlass des 40. Jahrestages des Überfalls auf Polen ein Interview mit Heinrich Böll und Lew Kopelew. Der Titel: „Warum haben die aufeinander geschossen?“. Immerhin waren Böll und Kopelew gegnerische Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Es wäre möglich gewesen, dass sie sich im Verlauf des Krieges irgendwann einmal gegenüber gestanden hätten. Hätten sie aufeinander geschossen? Als Klaus Bednarz den beiden seine Interviewidee vorschlug, sagten sowohl Böll, der damals in Moskau weilte, als auch Kopelew, sofort zu und beide sagten unabhängig voneinander: „Darüber habe ich auch oft nachgedacht“.
Lew Kopelew und Heinrich Böll waren Humanisten. Bednarz: „Für mich war es ein großes Glück, beide kennengelernt zu haben. Sie waren sich in vielen Dingen so ähnlich. Die zentrale Frage beider Leben, unabhängig voneinander, lautete: Wem kann man helfen?“. Dieses humanistische Denken stiftete eine Verbindung zwischen Böll und Kopelew.
Aber auch ihr Beruf. Böll war bereits ein bekannter Autor, als sie sich kennenlernten, Kopelew, Germanist und ebenfalls Schriftsteller, hatte ihn gelesen, sogar schon über ihn geschrieben. Es war Freundschaft auf den ersten Blick, als sie sich 1962 auf einer Reise Bölls in die Sowjetunion das erste Mal begegneten. Davon zeugt z.B. der Brief, den Heinrich Böll an Lew Kopelew am 8. Mai 1963 aus Irland geschrieben hat. Darin heißt es: „Ich denke oft an unser herzliches Gespräch und an den herzlichen Abschied, erzähle oft meiner Frau davon. Schade, daß soviel Bitteres an Schwierigkeiten und Stacheldraht zwischen uns liegt, das Viele, das uns verbindet, ist soviel mehr als die überflüssigen Dinge, die uns trennen“. Die Politik, die in dieser Zeit so stark in das Private eindrang, spielt in den Briefen eine große Rolle. Historische Ereignisse wurden erörtert und diskutiert, wobei Kopelew und Böll grundsätzlich einer Meinung waren, was die Beurteilung der Ereignisse betraf. So beispielsweise beim Prager Frühling und dessen gewaltsamer Niederschlagung durch einmarschierende Truppen des Warschauer Pakts 1968. Lew Kopelew, der bereits unter starken Repressalien durch das Sowjetregime litt, schrieb am 1. August 1968: „Nie war ich so ungewiss meiner Zukunft wie jetzt. Dafür aber haben wir den Trost – die Tschechoslowakei … wenn ich bloß beten könnte, würde ich jeden Morgen und Abend beten: ‚Gott erhalte die Tschechoslowakei, behüte sie unter feindlichen Brüdern!‘“. Böll antwortet am 21. September: „… inzwischen hatten wir den 21.8., den wir in Prag erlebten! … Wir kamen am 20.8. abends ahnungslos in Prag an, wollten tschechische Wunder so recht an Ort und Stelle studieren – und als wir am 21.8. sehr früh wach wurden, war’s geschehen! Angst hatten wir merkwürdigerweise nicht, aber es ging natürlich an die ‚Nerven‘, die verzweifelten Tschechen zu sehen und ihnen gegenüber die armen, unschuldigen, ebenso verzweifelten sowjetischen Soldaten!“.
Der Kalte Krieg überschattete alles. Lew Kopelew bat Heinrich Böll immer wieder um Hilfe für Kollegen, für Regimekritiker, bittet um Fürsprache und oft auch um Medikamente. Und Böll half, wo er konnte. Er verfasste Artikel, hielt Reden, sprach mit Politikern. Er wurde zum Hoffnungsträger für viele. Oft konnte er helfen, aber nicht immer. Böll besuchte Kopelew mehrfach in Moskau, Kopelew durfte nicht reisen, auch, wenn seine Sehnsucht groß war. Am 26. Mai 1972 schrieb er: „Ich möchte noch, solange ich gehen und sehen kann, Weimar und Köln, Frankfurt und Stuttgart und anderes mehr per pedum apostolorum durchwandern und ohne Hast begaffen …“.
Schließlich, ab Mitte der 70er Jahre, ging es darum, Kopelew und seiner Frau die Ausreise aus der Sowjetunion zu ermöglichen. Lange Zeit verging, viele Briefe wurden geschrieben. Doch erst Ende 1980 war es soweit: Im Brief vom 15. Oktober an Böll heißt es: „Die Pässe haben wir schon“. Die Kopelews reisten nach Köln und wurden zwei Monate später aus der Sowjetunion ausgebürgert.
Der Briefwechsel neigte sich seinem Ende zu, jetzt traf man sich persönlich. So ist der letzte Brief im Buch ein Geburtstagsgruß von Heinrich Böll zum 70. Geburtstag von Lew Kopelew: „So unersetzlich wie Du dort warst, bist Du hier … Ich sage Dir etwas, das so verrückt wie banal ist: Deutschland braucht Dich (daß Rußland Dich braucht, ist vorausgesetzt!)“.
Der Briefwechsel lässt, eben weil er in großen Teilen nicht Privates, sondern Politisches und Zeitgeschichtliches, thematisiert, eine längst vergangene Zeit wieder aufleben. Oder wie Fritz Pleitgen es ausdrückte: „Dieser Briefwechsel spiegelt ein Stück Zeitgeschichte. Darin werden Sie vieles entdecken, das allmählich wieder versinkt“. Der Briefwechsel mit Lew Kopelew ist eine der umfangreichsten überlieferten Einzelkorrespondenzen Heinrich Bölls. Sie sind Zeugnisse einer vergangenen Epoche, einer Zeit, die geprägt war vom Kalten Krieg, der Bonner Republik, der Diktatur in der Sowjetunion. Es sind Briefe, die das schwierige Ost-West-Verhältnis in dieser Zeit beleuchten, die offenbaren, wie stark sich Politisches in das Private drängte, wie sehr das Leben vor allem in der Sowjetunion durch den Staat kontrolliert wurde. Sie zeugen aber auch von einer Freundschaft, für die gegenseitige Achtung, ja Bewunderung bezeichnend war.
Pleitgen und Bednarz lasen abwechselnd aus der Korrespondenz vor. Dabei spannten sie einen chronologischen Bogen, der dem Zuhörer einen Überblick über den Briefwechsel ermöglichte. Ergänzt durch eigene Erlebnisse gestalteten Pleitgen und Bednarz so einen unterhaltsamen Abend, der Lust machte, sich eingehender mit dieser versunkenen Zeit zu beschäftigen, in den Briefwechsel zweier hochinteressanter Persönlichkeiten einzutauchen und noch einmal nachzulesen, wie es damals war, in einer Zeit, in der noch Briefe geschrieben wurden.
*Heinrich Böll – Lew Kopelew. Briefwechsel, Hrsg v. Elsbeth Zylla, Steidl 2011, 29,80 €