Wenn zwei ausgewiesene Experten zum Thema „Heinrich Böll – Was ist geblieben?“ ein Gespräch führen, dann kommt die Zuschauerin, der Zuschauer unter Umständen in den Genuss eines leidenschaftlich geführten Gesprächs, gespickt mit Fakten und Anekdoten. Dr. Gabriele Ewenz, Leiterin des Heinrich-Böll-Archivs in Köln, und Dr. Jochen Schubert , Autor und Mitarbeiter im Heinrich-Böll-Archiv in Köln, sind zwei dieser ExpertInnen. Sie trafen sich innerhalb der Böll-Tage 2012 zum Dialoggespräch in der Weimarer Stadtbücherei. Hanno Müller, Journalist bei der Thüringer Allgemeine, moderierte das Gespräch.
Wie aktuell ist Heinrich Böll heute? Welche Ausstrahlung hat er auf seine LeserInnen? Wird er überhaupt noch gelesen? Und wenn ja, was wird gelesen? Wie gestaltet sich die Rezeption seines Werkes?
Dass Heinrich Böll als Autor nichts von seiner Aktualität verloren hat, darüber waren sich die SpezialistInnen einig. Anhand des Bandes „Widerstand ist ein Freiheitsrecht. Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte“* der Kölner Heinrich-Böll-Ausgabe diskutierten Ewenz und Schubert, der übrigens Mitherausgeber des Bandes ist und auch das Nachwort schrieb, die Aktualität Bölls in heutiger Zeit. 84 essayistische Schriften Bölls, entstanden zwischen 1952 und 1985, sind in diesem Buch zum ersten Mal versammelt. Darunter so einschlägige Schriften wie „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“, „Vorsicht! Bücher!“, „Soviel Liebe auf einmal. Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?“ und „Einmischung erwünscht“.
Freilich eröffnete Gabriele Ewenz die Diskussion mit einem prominenten Vers Robert Gernhardts: „Der Böll ist als Typ wirklich Klasse/ Da stimmen Gesinnung und Kasse/ Er wär‘ überhaupt erste Sahne/ Wären da nicht die Romane“. Somit war das Einstiegsthema vorgegeben: Die Spannung zwischen Bölls eigener Sicht auf sein Werk und der Rezeption seiner Werke. Denn Heinrich Böll – und darauf wiesen sowohl Ewenz als auch Schubert immer wieder hin – trennte nicht zwischen Prosa und Essay. So steht im Klappentext von „Widerstand ist ein Freiheitsrecht“: Er „verstand seine Schriften und Reden über Literatur, Politik und Zeitgeschichte als integralen Bestandteil seines literarischen Schaffens“. Für Böll besaßen essayistisches und belletristisches Werk Gleichwertigkeit.
So erzählt Ewenz vom Eklat 1983, als es im Vorfeld des Kölner Ratsbeschlusses, Böll das Ehrenbürgerrecht zu verleihen, zu einer politischen Auseinandersetzung kam. Böll war nicht damit einverstanden, dass die Ehrenbürgerschaft lediglich für sein Romanwerk verliehen werden sollte, er wollte keine Teilung zwischen Publizistik und literarischem Werk. In seiner Dankesrede geht Böll darauf ein: „Was ich nicht begriffen habe, was mich deshalb natürlich auch nicht kränken konnte, war der Versuch, den sogenannten Erzähler von dem anderen zu trennen, der da gelegentlich Aufsätze schreibt, Kritiken, den man gelegentlich reden hört, ganz abgesehen davon, dass auch Aufsätze, Kritiken und Reden Literatur sind“. Die Rezeption setze den Fokus nach wie vor besonders auf die Trennung zwischen essayistischem und literarischem Werk, so Ewenz.
Jochen Schubert erzählte, dass Böll sich immer unterschätzt fühlte, gelegentlich auch überschätzt, aber generell missverstanden. Die bekannten Werke – „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder „Irisches Tagebuch“ – führten auf eigenartige Weise eine vom Autor abgetrennte Existenz, so Schubert. Gleichzeitig werde Böll bis heute instrumentalisiert, er, der sich, so Gabriele Ewenz, nie vereinnahmen und instrumentalisieren lassen wollte. Ewenz: "Es heißt, das Engagement braucht ein Gesicht“, Occupy bediene sich beispielsweise bei Heinrich Böll.
Dafür muss man Böll nicht einmal gelesen haben. Schubert: „Man kann Böll Klasse finden, ohne ihn zu kennen. Weil dieser Mythos funktioniert“. Dieser Mythos: Wenn man an Böll erinnert, erinnert man an ihn als kritischen Geist, als Einmischenden. Sein Werk bietet zahlreiche Zitate, die Haltungen auf den Punkt bringen und sich dadurch gut vereinnahmen lassen. Gabriele Ewenz: „Er wird nur dann hervorgeholt, wenn es zum Thema passt“. Und weiter meint sie: „Jedem Leser sein eigener Böll“. Denn das Primäre an Literatur sei ja, dass immer verschiedene Lesarten möglich seien. Wenn man fragt, was heute noch aktuell an Böll sei, müsse man sich provokanterweise auch fragen, was an Goethetexten heute noch aktuell ist, so Ewenz.
Die Frage bleibt also: Warum reibt man sich gerade an diesem Autor Heinrich Böll so stark? Hanno Müller wollte wissen, warum es in Deutschland noch kein Böll-Haus gäbe. Dabei sei Böll doch ein Mann, mit dem die deutsche Literatur sich schmücken könne. Nobelpreisträger, einer der meistgelesenen Autoren der 50er und 60er Jahre, seine Werke gehören zur Schullektüre. Darauf antwortete Gabriele Ewenz: „Böll ist sicherlich kein Vorzeigeautor. Er ist kein Autor, mit dem man sich schmückt“, eben weil er engagiert war, weil er unbequem war. Weil er ein Autor war, der bis heute sehr konträr wahrgenommen wird.
Mancher bezeichnet seine literarischen Werke gar als Kitsch. Böll sei ein schlichter Schreiber gewesen. Trifft so eine Zuschreibung zu? Nein, so das eindeutige Urteil der ExpertInnen. Gabriele Ewenz: „Ich glaube zunächst einmal, dass er die unglaubliche Gabe hatte, genau zu beobachten – Randerscheinungen, alltägliche, banale Dinge. Seine Beobachtungen hat er dann ganz bemerkenswert in Sprache umgesetzt“. Und zwar in eine Sprache, die angenommen werde und unmittelbar wirke. Sprache war das Material, mit dem er sich lebenslang auseinandersetzte. Dabei sei ein Text niemals bloßes Abbild der Wirklichkeit, sondern, so Jochen Schubert: „Es gibt immer den Anspruch Bölls: Was ich geschrieben und geredet habe, ist einem Prozess unterworfen“. Und er zitiert aus Bölls Text „Steht uns bei, ihr Heiligen!“: „Kunst ist Widerstand, immer gegen widerspenstiges Material, auch wenn dieses Material Sprache ist … Schriftsteller üben Gewalt an Sprache und Ton“. Schon Humboldt sagte: „Es gibt keine Neutralität der Sprache“. Auch das war ein Grundverständnis von Heinrich Böll, der so gern als „Gewissen der Nation“ bezeichnet wird. Natürlich wehrte er sich auch gegen diese Charakterisierung heftig.
Wird Böll heute überhaupt noch gelesen? Ja. Gabriele Ewenz erzählt: „Wir bekommen im Archiv permanent Anfrage von Nutzern“. Böll ist nach wie vor Schullektüre, Böll habe nach wie vor seinen Stellenwert. Nicht zuletzt aus diesen Gründen habe man die 27-bändige Werkausgabe herausgebracht. Das sehr zerstreute Werk Bölls sollte wieder zugänglich gemacht, an einem Ort versammelt werden, mit dem Wunsch verknüpft, dass auf dieser Basis neue Dinge entdeckt werden, so Jochen Schubert. Und was würden die KennerInnen heute aus dem Regal nehmen?, fragt Hanno Müller zum Schluss. „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“, antwortet Gabriele Ewenz und Jochen Schubert sagt: „Gruppenbild mit Dame“.
Fazit: Was ist geblieben? Heinrich Böll als vielseitiger Autor, der auch heute noch gelesen wird und über den man leidenschaftliche Diskussionen führen kann, wie dieser Abend bewies. Eine Beschäftigung mit seinem Werk lohnt sich allemal. Die Frage, wie aktuelle Böll heute noch sei, erübrigt sich. Nicht umsonst wird er bis heute, auch wenn ihm das nicht gefallen hätte, instrumentalisiert. Bedeutende Reden und Schriften, die auch sprachlich ein Genuss sind und ein literarisches Werk, für das er nicht umsonst den Nobelpreis erhielt – Texte, die es sich allemal zu lesen und darüber zu reden lohnt – das ist geblieben.
* „Widerstand ist ein Freiheitsrecht …“. Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 29.99 €