Anlässlich des 100. Geburtstages von Heinrich Böll feierte die Heinrich-Böll-Stiftung Ihren Namensgeber mit einer Ausstellung und einer Lesung.
Es gibt schon sehr viele Biografien über Heinrich Böll. Im Jahr seines 100. Geburtstages legte der Autor Jochen Schubert jedoch eine Biografie mit einem anderen, neuen Fokus vor. Die Biografie „Eigensinn. Heinrich Böll 1917-1985“ konzentriert sich mehr auf die Ursprünge und Erscheinungsformen von Bölls Widerstand und Widerständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und ideologischen Vorgaben.
Eigentlich sollte am 15. November der Autor dieser Biografie im Rahmen der Erfurter Herbstlese daraus vorlesen. Leider konnte Jochen Schubert aus Krankheitsgründen nicht anwesend sein, daher las der Erfurter Vorleser Martin Schink einige Passagen aus dem Werk. Ergänzt wurde die Lesung durch Filmausschnitte, in denen Böll selbst zu Wort kam.
Die Lesung war chronologisch gegliedert und begann mit einer Beschreibung der ersten literarischen Gehversuche von Heinrich Böll. Er lebte zu dieser Zeit mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer kleinen Wohnung in Köln und hatte finanzielle Probleme. Er konnte sich kaum, wie er selbst schreibt, „seine alltäglichen Tabakrationen“ besorgen. Aber er hatte ein Motto, er wollte „den Ermordeten ein Lied singen“ und sie somit vor dem Vergessen schützen. Dies versuchte er in seinem ersten Roman „Kreuz ohne Liebe“. Vom Verlag wurde der Roman jedoch abgelehnt, da er sich zu wenig mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte und das Heer und den Krieg zu schablonenhaft schwarz-weiß zeichne.
Auch wenn dieses unreife Frühwerk nicht für die literarischen Leistungen Bölls stehen kann, so zeigte es doch, welchen Anspruch Böll zukünftig an seine Literatur stellen wollte: Er wollte nah bei den Menschen mit ihrem schweren Alltag sein und suchte dafür nach einer passenden Sprache. Konkret formulierte er diesen Anspruch in seiner Frankfurter Poetik-Lesung im Jahr 1964. Er möchte nicht irgendwo wohnen, und als Autor kann er auch gar nicht irgendwo wohnen – als Autor braucht er ein Land und eine Sprache, in der er sich heimisch fühlt: „Ich suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land.“
Das Land, in dem Böll lebte, entwickelte sich aber in den 60er Jahren in eine Richtung, die Böll nicht zusagte. Die Lesung fokussierte sich nun weniger auf die literarischen Werke Bölls, die ihm zu diesem Zeitpunkt schon deutschlandweite Bekanntheit verschafft hatten, sondern vielmehr auf seine politische Position innerhalb Deutschlands. Diese war geprägt durch seine Position zur SPD. Insbesondere Günter Grass wollte die SPD in den 60er Jahren unterstützen. Böll stand dieser Unterstützung eher skeptisch gegenüber und wollte sich nicht – wie Grass – an eine Partei binden. Er sah eine „Anbiederungspolitik der SPD an die politischen Verhältnisse“ und eine „Öffnung nach rechts“. Er befürchtete die Bildung einer großen Koalition aus SPD und CDU und hoffte auf eine Parteienabspaltung von der sich immer weiter anpassenden SPD. Sein Fazit über die SPD im Jahr 1964: „Ich kann für diese bürgerlich nationalistische Idiotenpartei nichts tun.“
In dieser Zeit entstand auch oft der Eindruck, dass Böll jede Form von Macht ablehne. In einem Film-Ausschnitt erklärte Böll selbst sein Verhältnis zur Macht: „Ich lehne sie nicht ab. Sie ist notwendig, aber sie muss mit ihren eigenen Ansprüchen konfrontiert werden.“ Das wollte er als Autor tun und auf diese Weise besaß er auch Einfluss auf die Gesellschaft. Etwas lakonisch merkte er in diesem Interview an: „Den Einfluss nutze ich bewusst – das ist nicht so zufällig, wie es manchmal aussieht.“
Dieser Einfluss wurde ihm jedoch in den 70er Jahren von konservativer Seite immer häufiger vorgeworfen. Böll wurde beschuldigt, ein „intellektueller Bombenleger“ und ein „geistiger Wegbereiter“ der RAF gewesen zu sein. Daher kam es 1972 zu einer Hausdurchsuchung seines Hauses in Langenbroich. Böll wurde verdächtigt, Mitgliedern der RAF in seinem Haus Unterschlupf zu gewähren. Er wehrte sich öffentlich mit einem Brief an den Bundespräsidenten Gustav Heinemann und verlangte Aufklärung dieses unwürdigen Verhaltens. Er war in dieser Zeit sehr angespannt und dünnhäutig, wie es der Biograph Jochen Schubert beschreibt. Die ständigen Denunziationen und falsch wiedergegebenen Zitate der konservativen Springerpresse hatten ihn zermürbt. Als Glücksfall erwies sich, dass ihm in diesem Jahr der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Die Springerpresse sprach zwar von einer „Verschwörung der sozialistischen Internationale“, Böll aber freute sich über die Glückwünsche der vielen anderen Autoren.
Die Denunzationen der Presse gingen jedoch weiter. Sie hielten ihn aber nicht davon ab, sich weiterhin einzumischen – ja, er trat sogar gerade deshalb öffentlich auf, um den Vorwürfen entgegenzuwirken. Als Autor sah er sich als „geborener Einmischer“. Sein Credo war: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit realistisch zu bleiben.“ Das „öffentliche Tun“ wurde zu seiner Leitlinie in dieser Zeit.
Durch dieses gesellschaftliche Engagement wandelte sich das Bild Bölls in der Öffentlichkeit zunehmend. Er hatte sich beispielsweise für politische Häftlinge eingesetzt und sich in der Friedensbewegung bei der sogenannten „Prominentenblockade“ im Jahr 1983 engagiert. Auf diese Weise war er in den 80er Jahren zu einer moralischen Instanz in Deutschland geworden.
Als er 1985 starb, wurde er in den Nachrufen als „das Gewissen der Nation“ bezeichnet – ein Titel, den er zu Lebzeiten schon mehrfach vehement abgelehnt hatte, wie es der letzte Filmausschnitt des Abends eindrücklich verdeutlichte. Dort wurde Böll gefragt, welche Zuschreibung er präferieren würde: Als Gewissen der Nation, das nebenbei auch Schriftsteller war, oder als Erzähler von spannenden Geschichten. Böll präferierte deutlich den zweiten Titel. Wenn er als Gewissen der Nation bezeichnet werde, dann nur „weil es offenbar zu wenig Gewissen gibt“. Alle Instanzen, die eigentlich in der Öffentlichkeit das Gewissen sein sollten, wie die Presse oder die Politik, delegierten dies an ihn – er sei Sündenbock und Gewissen zugleich. Die Öffentlichkeit dürfe durch die Zuweisung des Titels „Gewissen der Nation“ an einen Autor nicht in den Zustand der Gewissenlosigkeit versetzt werden.